Kritische Haltung gegenüber Windows wächst

IBM schickt Großkunden Betaversionen von OS/2 2.0

19.07.1991

MENLO PARK (CW) - Big Blues Offensive rollt: Sie beginnt mit einer Versandaktion von OS/2, Version 2.0, an 1000 Großkunden, die die neue Betriebssystem-Version in Augenschein nehmen sollen. Bereits auf der PC-Expo in New York hatte die IBM ihr Konkurrenzprodukt zu Windows 3.0 mit viel PR-Aufwand in den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses zu rücken versucht.

In gewisser Hinsicht betritt der blaue Riese mit diesem Vorgehen wieder einmal Neuland: Abgesehen von den 10 000 Kopien der aktuellsten OS/2-Version, die vornehmlich an IBM-Angehörige selbst adressiert waren, hatte Big Blue bislang Produkte erst dann für Betatests an Kunden herausgegeben, wenn sie vorher ausgiebig selbst getestet worden waren.

Lee Reiswig, Vice-President der Programmierabteilung bei IBM, bestätigt, was man beim DV-Monopolisten gern als "die neue Offenheit" verkaufen möchte: "Bislang haben wir niemals Produkte an Kunden versandt, die nicht vorher komplett von uns durchgeprüft worden waren."

Erwartungen an Windows sind zu hoch angesetzt

Tester aus der Industrie zeigten sich über das von der IBM als "Early Experience Program" bezeichnete Vorgehen erfreut. Sie machen mit ihren Kommentaren zunehmend deutlich, daß die erste Windows-Euphorie abgeflaut ist - der Anwender wird kritischer gegenüber Microsofts Senkrechtstarter.

Trotzdem ist es das alte Lied: Obwohl man etwa bei der Wells Fargo Bank in San Franzisko durchaus angetan ist von OS/2 Version 2.0, will man abwarten, für welche Plattform - Windows 3.0 oder OS/2 - die Software-Entwickler sich engagieren.

Allerdings beeinflusse die Kaufentscheidung allmählich auch erste Erfahrungen mit Schwächen, die Windows 3.0 offenbart. "Wir haben zwar so um die 150 bis 200 Windows-Kopien gekauft, nutzen aber höchstens ein Viertel davon", äußert Philip Hornbostel, der beim kalifornischen Gesundheitswesen seinen Dienst in der Systembetreuung versieht.

Ihm schmeckt vor allem das Speicher-Management von Windows 3.0 nicht. OS/2 in der neuesten Version, hofft er, werde hier für Abhilfe sorgen.

Auch bei Microsoft ist man sich des Tontauben-Effekts, der sich momentan gegen die DOS-Oberfläche herauszukristallisieren beginnt, bewußt. Bei Einführung von Windows im Frühjahr 1990 hatten die Erwartungen und wohl auch Hoffnungen der Öffentlichkeit das Microsoft-Produkt in höchste Höhen katapultiert. Jetzt, wo sich einige Erwartungen an Windows 3.0 nicht erfüllen, legt man an zum Abschuß. Microsoft-Sprecher Michael Kausch äußerte gegenüber der COMPUTERWOCHE diesbezüglich bereits Befürchtungen: "Wir durchschreiten momentan mit Windows eine kritische Phase: Die Leute merken, daß die Erwartungen an das Produkt einfach viel zu hoch waren."

Da die Anwender ihre Entscheidung pro oder kontra Microsofts Windows 3.0 oder IBMs OS/2, Version 2.0, jetzt überdenken müssen, erwartet Kausch in den nächsten Wochen und Monaten eine angeregte Diskussion über die beiden Betriebssystem-Plattformen.

Bei Levi Strauss hat man sich anscheinend bereits entschieden. Bill Hollabaugh, technischer Berater beim Jeanslieferanten, verteilt seine Zensuren ungeschminkt: "OS/2 gibt Benutzern, was sie brauchen. Windows hat zwar eine gute Presse für sich gewonnen, aber das wird sich mit Version 2.0 von OS/2 ändern."