Neue Version des Betriebssystems wird noch in diesem Jahr angekündigt

IBM nennt DOS/VSE auch ohne SAA-Konformität "strategisch"

27.07.1990

BÖBLINGEN (qua) - Mehr als 2000 deutsche DV-Chefs können demnächst etwas ruhiger schlafen: DOS/VSE gilt innerhalb der IBM neuerdings als "strategisch" - ein Adjektiv, das bislang den vier designierten SAA-Betriebssystemen - OS/2, OS/400, VM und MVS - vorbehalten war. Vom eigentlichen SAA-Club bleibt VSE indes ausgeschlossen.

Noch vor vier Jahren sah es ganz so aus, als trenne sich die IBM über kurz oder lang von ihrem Betriebssystem-Veteranen, der damals schon mehr als zwanzig Jahre auf dem Buckel hatte. Als das VSE-Labor in Böblingen kürzlich den 25. Jahrestag der Erstauslieferung feierte, sah "Virtual Storage Extended" hingegen jünger aus als je zuvor.

Voraussichtlich noch in diesem Jahr wird der Hersteller eine neue Version des Betriebssystems vorstellen, die unter der Bezeichnung VSE/ESA vermarktet wird und auch auf den bislang erst als Erlkönig durch die Branche geisternden Rechnern der oberen Mittelklasse ablauffähig sein soll.

"Eine Änderung im Denken bezüglich des strategischen Werts von VSE", so VSE-Produktmanager Volker Löhr, liege dieser 180-Grad-Wendung zugrunde.

Wie sich der IBM-Mitarbeiter erinnert, hatte der Anbieter in den Jahren 1985 und 1986 den Entschluß gefaßt, DOS/VSE aufzugeben, "um die Vielfalt der Operating-Systeme ein wenig einzuschränken."

Damals schuf der Branchenriese durch zeitlich befristete Lizenzvergünstigungen Anreize für eine Migration von VSE auf das Betriebssystem-Flaggschiff MVS. "Da sich VSE und MVS von ihren inhaltlichen Stärken her ähneln, glaubten wir, alle 22 000 VSE-Kunden eines Tages nach MVS hinüberziehen zu können", erläutert Löhr.

Als Reaktion auf diese Ankündigung ging ein heftiger Aufschrei durch die Reihen der Kunden.

Trotz der angebotenen Vergünstigungen und der höheren Funktionalität war die Mehrzahl der VSE-Anwender offensichtlich nicht bereit, auf das wesentlich komplexere und teuerere MVS überzuwechseln - zumal die Migration selbst ebenfalls einigen Aufwand erfordert.

Dem Anbieter blieb nicht viel übrig, als den Willen seiner Klientel zu respektieren. Löhr: "Der Kunde sprach ein Machtwort, und wir haben unsere Schlüsse daraus gezogen." Schließlich, so sei den IBM-Managern klargeworden, könne sich nicht jeder einen großen Mercedes leisten, und einige seien mit einem VW Golf sehr gut bedient.

Abstriche in der Funktionalität

Anstatt die Migration nach MVS zu forcieren, entschloß sich der Hersteller also, VSE weiterzuentwickeln und ihm einen Platz innerhalb seines Konzepts für eine unternehmensweite Informationsverarbeitung anzuweisen: Nach dem Willen der IBM sollen die DV-Abteilungen VSE im unteren /370-Bereich - auf den Maschinen der Serien 9370 und 43xx - fahren, während auf den Mainframes der 3090-Familie MVS zum Einsatz kommt. Grundsätzlich, so räumt Löhr ein, versehe VSE seinen Dienst allerdings auch auf den 3090-Maschinen; der Anwender müsse lediglich Abstriche in puncto Funktionalität in Kauf nehmen (vergleiche CW Nr. 31 vom 28. Juli 1989, Seite l1: "VSE läuft prinzipiell auch auf der 3090"). Es gebe eine Reihe von Kunden, die über die Software-Komponente "Prism" mehrere VSE-Maschinen auf einer 3090 installiert hätten.

Auch wenn die treuen VSE-Anwender derzeit Grund zur Freude haben - einen Wermutstropfen verabreicht ihnen der Anbieter doch: Nach wie vor verweigert Mother Blue ihrem ungeliebten Betriebssystemkind das Prädikat "SAA-konform". Bereits im September 1988 hieß es anläßlich der Ankündigung von VSE Version 4 sinngemäß: VSE partizipiert an SAA da, wo es "nötig" ist. An dieser Aussage hat sich bis dato nichts geändert.

Wie Löhr ausführt, unterstützt VSE das SAA-Konzept hinsichtlich der Transaktionsorientierung, der Kommunikationsprotokolle und der Fourth Generation Language, spricht: CSP.

Den "Common User Access" (CUA) hingegen will der Hersteller unter VSE nicht realisieren; statt dessen verweist er auf den Umweg über die sogenannten Personal Workstations (PWS) mit OS/2.

Das Augenmerk der IBM-Entwickler richtet sich derzeit unter anderem darauf, Anwendungsportabilität zwischen VSE und MVS herzustellen. Nach Aussagen des Produktmanagers werden beispielsweise die Subsysteme VTAM und CICS in beiden Betriebssystemen auf denselben Release-Stand gebracht. Eines der Ziele sei es, CICS-Anwendungen 1 zu 1 von VSE nach MVS portieren zu können.

"Quantensprung" zwischen MVS und VSE

Daß die IBM auf diesem Wege eine Migration fördern wolle, die zu erzwingen ihr nicht gelungen sei, bestreitet Löhr entschieden: "Nach wie vor existiert ein Quantensprung zwischen MVS und VSE. Außerdem wächst die MVS-Funktionalität nach oben weg."

Allerdings solle die Migration für diejenigen Kunden erleichtert werden, die quasi aus freien Stücken von VSE nach MVS wechseln wollen.

Darüber hinaus erhofft sich der IBM-Manager eine wachsende Nachfrage für die Vernetzung von VSE-Rechnern zu größeren Strukturen unter einem zentralen MVS-Host.