Big Blue will nicht auf das Markt-Feedback warten muessen

IBM laesst Software waehrend der Entwicklung von Anwendern testen

19.03.1993

Karl Blumenfeld (Name aus Gruenden des Persoenlichkeitsschutzes geaendert) starrt gruebelnd auf den Bildschirm. "Schauen wir mal hier", sagt er zu sich selber und drueckt auf die Tasten. "Klick, klick", toent es, doch der Effekt ist nicht der gewuenschte. Auch beim naechsten Anlauf nicht. Da meldet sich ueber Lautsprecher eine Stimme aus dem Nebenraum: "Versuchen Sie doch folgendes", und hilft dem Denker auf die Spruenge. Blumenfeld ist sichtlich erleichtert: "Aha, das haette ich jetzt nicht vermutet, so sieht das schon viel besser aus."

Dass Software (und damit letztlich auch ihr Benutzer) besser aussieht, ist Sinn und Zweck des Usability Laboratory, das IBM fuer teures Geld in Wien eingerichtet hat. Hier werden Testpersonen mit neuen Programmen konfrontiert, und Fachleute aus der Entwicklungsabteilung schauen, ohne selbst gesehen zu werden, aus einem Nebenraum zu. Nicht etwa aus Voyeurismus, sondern um festzustellen, wo die Schwierigkeiten bei der Anwendung liegen. Denn die Entwickler selber koennen sich das kaum vorstellen - sie sind viel zu vertraut mit ihrer Neuschoepfung.

SW kann Anwender zur Verzweiflung bringen

"Danke fuers Mitmachen", steht am Anfang der Testinstruktionen, "Sie repraesentieren unsere potentiellen Kunden. Sollten Sie Schwierigkeiten haben mit der Software, so ist das nicht nur okay, sondern wird uns sogar helfen, das Programm zu verbessern, bevor wir es auf den Markt bringen. Denken Sie daran: Wir testen das Produkt, nicht Sie."

Diese Klarstellung ist bitter noetig, denn Software kann den Anwender durchaus zur Verzweiflung bringen. Selbst marktgaengige Programme aus der Bestsellerliste geben haeufig Anlass zu Wutanfaellen oder Schlimmerem, und zwar nicht nur bei blutigen Anfaengern.

Software so benutzerfreundlich wie moeglich zu machen, ist also eine durchaus respektable Aufgabe, die im IBM-Labor denn auch sehr ernst genommen wird. Der kluge Kopf, der dahintersteht, heisst Mike Alexander, ein Englaender, der sich in Wien gut eingelebt hat, perfekt Deutsch spricht und dabei den Sinn fuer feinen britischen Humor nicht verloren hat. "Eigentlich geht es immer um dasselbe", erklaert Alexander und zeigt uns eine elektrische Kuechenuhr: "Das Interface." Und diese "Schnittstelle zwischen Mensch und Apparat", wie es auf Neudeutsch so schoen heisst, ist voller Ueberraschungen und Tuecken. Dass man eine Uhr mit Zeigern besser ablesen kann als eine Digitaluhr, ist bekannt. Dass die Kuechenuhr neben der Zeitanzeige noch weitere Interfaces hat, schon weniger. Darauf kommt man erst, wenn man das Geraet von Winter- auf Sommerzeit umstellen, an der Wand befestigen oder die Batterie auswechseln will.

"Eine optimale Anwendung ist wie ein gut designter Rasierapparat: Auspacken, Stecker in Steckdose, Rasieren", meint Alexander, "einfach so, ohne lange zu ueberlegen."

Je mehr Sorgfalt die Hersteller den Schnittstellen widmen, desto zufriedener sind die Kunden, die damit tagtaeglich konfrontiert sind. Deshalb gibt es bei IBM ein spezielles Handbuch fuer Software-Entwickler. "Die Nuetzlichkeit jedes neuen IBM-Produkts", steht dort, "soll nicht nur besser sein als jene der Vorgaengerversion, sondern auch besser als die Nuetzlichkeit vergleichbarer Konkurrenzprodukte." Die Umsetzung dieser Regel in die Praxis ist zweifelsohne etwas, das die Amerikaner "a tall order" nennen, eine Forderung, die nicht leicht zu erfuellen ist. Denn was besser ist, bestimmen nun einmal nicht die Entwickler, sondern die Anwender.

Nun kommt das Feedback von den Anwendern zwar so sicher wie das Amen in der Kirche - aber wer als Hersteller darauf wartet, bekommt nur Rueckmeldungen vom Markt, und dann ist es fuer Aenderungen definitiv zu spaet. Will man Software noch vor der Markteinfuehrung so weit wie moeglich perfektionieren, so braucht man eine Einrichtung, wo potentielle User Programme unter praxisnahen Bedingungen testen koennen.

Das Institut in Wien bietet ideale Bedingungen dafuer. Es besteht aus zwei Raeumen, die durch eine Spiegelglaswand getrennt sind. Im Testraum ist ein normaler Computerarbeitsplatz eingerichtet. Der Bildschirm der Testperson wird direkt auf den des Testleiters uebertragen; alles andere erfassen Videokameras und Mikrofone, die das Geschehen live in den Beobachtungsraum uebertragen, wo es zur Dokumentation aufgezeichnet wird. Alle Kameras sind vom Beobachtungsraum aus fernsteuerbar: Man kann den Blickwinkel aendern, zoomen oder auf etwas fokussieren. Die Beobachter koennen auch dem Tester ueber Lautsprecher Anweisungen oder Hilfe geben.

Der Tester muss Aufgaben loesen, fuer die er die Hauptfunktionen des Programms braucht. Gelingt ihm das nicht so, wie es sich die Software-Entwickler vorgestellt haben, so ist das ein Hinweis, dass sie das Programm aendern oder schlimmstenfalls gar neu entwerfen muessen.

Am Schluss wird der Tester gebeten, einen Fragebogen auszufuellen, wo er seine Zufriedenheit bezueglich verschiedener Punkte auf einer Skala eintragen und auch Kommentare abgeben kann.

Da jeder Anwender anders reagiert, laesst man die gleiche Software von mehreren Personen testen. Dabei zeigt sich meist sehr deutlich, wo die Hindernisse liegen, die man aus dem Weg raeumen muss.

User sind immer wieder fuer Ueberraschungen gut

Was macht den Benutzern am meisten Schwierigkeiten? "Da kann ich keine allgemeinen Regeln nennen", erklaert Mike Alexander, "denn wuessten wir, was wir finden werden, braeuchten wir ja gar nicht zu suchen."

So erleben nicht nur die Tester, sondern auch Alexander und sein Team immer wieder Ueberraschungen Was eigentlich auch kein Wunder ist: Das Wesen des Menschen ist komplex, und moderne Softwareprodukte sind es oftmals auch. Ein typisches Beispiel dafuer ist das fuer IBM-Grossrechner geschrieben Utility-Programm Ditto, das Karl Blumenfeld bei unserem Besuch im Wiener Labor ausprobierte. Ditto gibt es zwar schon seit 25 Jahren, aber in der Zwischenzeit ist es immer wieder ergaenzt und verbessert worden. Blumenfelds Test galt der neusten Version.

Das Usability Laboratory in Wien kann samt Mike Alexander von IBM Austria gemietet werden. Es ist freilich nicht der einzige Ort, wo sich IBM-Spezialisten mit den Beduerfnissen des Anwenders auseinandersetzen. Im kalifornischen San Jose zum Beispiel gibt es schon seit 1956 eine "Human Factors Group". Inzwischen betreibt IBM solche Abteilungen praktisch an allen Entwicklungslabors.

Die Spezialisten in den Usability- und Human-Factor-Abteilungen sind Fachleute unterschiedlichster Richtung: Psychologen, Ingenieure, Statistiker, Entwickler, aber auch Leute, die mit Produkten der zu testenden Art viel praktische Erfahrung haben.

Sie analysieren die Aufgaben, die ein neues Programm loesen soll, sehen sich bereits bestehende Loesungen an, sprechen mit potentiellen Anwendern und machen sich Gedanken ueber die Benutzbarkeit des Programms, bevor eine einzige Zeile Computercode geschrieben ist. Waehrend der Entwicklung fuehren sie regelmaessig Usability-Tests durch und sorgen dafuer, dass die so erhaltenen Anregungen im kuenftigen Produkt gebuehrend beruecksichtigt werden.

Labore fuer Anwendertests an noch gar nicht eingefuehrten Produkten nehmen sich auf den ersten Blick wie teurer Luxus aus. Langfristig lohnt sich der Aufwand aber: Wenn man die Software-Anwender von der Komplexitaet eines Programms abschirmen kann, ohne seine Funktionalitaet zu beeintraechtigen, werden sie es nicht nur besser, sondern auch lieber benutzen. Und darin liegt das Erfolgsgeheimnis eines Produkts.

*Felix Weber ist freier Journalist in Zuerich.