Interview

"IBM hat der CASE-Idee großen Schaden zugefügt

21.03.1997

CW: In Ihrem Vortrag haben Sie die Abkürzung CIO (Chief Information Officer, Anm. d. Red.) als "Career is over" erklärt - es sei denn, die Fusion zwischen Informationstechnik und Geschäft gelänge. Was kann der CIO dazu beitragen?

Martin: Er muß verstehen lernen, wie die Abläufe innerhalb der künftigen Unternehmensstrukturen, die ich als "Cybercorp" bezeichne, funktionieren. Und dann muß er diese Abläufe in die Informationstechnik übertragen. Die Stichworte sind unternehmensübergreifende Datenverarbeitung, also Extranets, sowie Data-Warehouse und Olap-Werkzeuge, aber auch Web-Technologie und deren zielgerichtete Anwendung. Dazu kommt die Möglichkeit, Anwendungen zu entwickeln, die sich sehr schnell anpassen lassen.

CW: Das versuchen DV-Verantwortliche doch heute schon.

Martin: Gehen Sie doch mal in die Unternehmen, und fragen Sie dort, ob es Anwendungen gibt, die sich mit dem Geschäft ändern können.

CW: Die Antwort dürfte lauten: Wir haben keine Werkzeuge dafür.

Martin: Es gibt diese Werkzeuge, aber sie werden kaum eingesetzt.

CW: Welche Tools meinen Sie?

Martin: Solche, die es möglich machen, die Geschäftsregeln direkt mit der Codegenerierung zu verknüpfen. Dazu zählt "Object Star" von Antares (unter der Bezeichnung "Huron" von Amdahl entwickelt und dann einem Joint-venture mit EDS übergeben, Anm. d. Red.).

CW: Die CASE-Idee gilt als gescheitert. Sind Sie derselben Ansicht?

Martin: Nein, CASE ist nicht tot, aber es hat sich gewandelt. Die CASE-Ideen sind mittlerweile 14 Jahre alt. Wenn Sie sich anschauen, was inzwischen alles passiert ist, dann sind die Fortschritte auf diesem Gebiet enttäuschend. Eigentlich müßte es heute sehr viel mächtigere Werkzeuge geben, als wir tatsächlich haben.

CW: Woran liegt das?

Martin: Unter anderem daran, daß die Anbieter fortwährend voneinander abgeschrieben haben. Es hat nie eine wirkliche Industrie für Software-Automatisierungswerkzeuge gegeben.

CW: Vielleicht war die ganze Idee ein Mißverständnis. Viele Leute sind der Ansicht, der ganz breite Ansatz könne gar nicht funktionieren.

Martin: Das glaube ich nicht. Das Manko der frühen CASE-Tools war lediglich, daß sie nicht objektorientiert arbeiteten. Als die Objekttechnik begann, sich durchzusetzen, hätten die Werkzeuge in diese Richtung weiterentwickelt werden müssen.

CW: In den Augen vieler Insider bedeutete das Scheitern von IBMs AD/Cycle-Konzept das Ende der CASE-Idee. Sehen Sie das auch so?

Martin: Zumindest hat IBM der Idee großen Schaden zugefügt. Das ist tragisch. Denn wenn AD/Cycle richtig angepackt worden wäre, hätte es die gesamte Industrie beflügeln können. Es gibt dort noch immer einen Markt mit einem Potential von fünf Milliarden Dollar - heute mehr denn je.

CW: Wie sollte dieser Markt aussehen?

Martin: Dieser Industriezweig ist zu komplex, als daß ihn ein einziges Unternehmen abdecken könnte. Bislang haben sich alle Unternehmen geirrt, die hofften, diesen Markt dominieren zu können. Texas Instruments beispielsweise ist daran gescheitert, daß man dort nicht mit anderen Unternehmen kooperieren konnte. (TI entwickelte das Produkt "IEF", das auf Martins "Information-Engineering"-Ansatz basiert, Anm. d. Red.).

CW: Von dieser Warte aus betrachtet, war die Grundidee von AD/Cycle sicher richtig.

Martin: Oh ja, wenn Bill Gates die Fäden gezogen hätte, dann wäre es fantastisch gelaufen (lacht).

CW: Zum Niedergang der CASE-Idee hat sicher auch der Run auf vorgefertigte Anwendungspakete, namentlich auf SAP-Software, beigetragen.

Martin: Wenn Sie einmal die Unternehmen auflisten, die in letzter Zeit extrem erfolgreich waren, dann fällt auf, daß kaum eines davon SAP-Anwender ist.

CW: Wie kommt das?

Martin: Daher, daß SAP eben generalisierte Pakete anbietet, diese Unternehmen aber etwas getan haben, was sie von allen Mitbewerbern unterscheidet.

CW: Individualprogrammierung macht nicht überall Sinn.

Martin: Ja, wo immer Standardpakete ausreichen, sollten sie auch eingesetzt werden, denn sie sind der billigste und sicherste Weg, Applikationen zu bekommen. Aber wer damit alle Anwendungsbereiche abdecken will, hindert sich selbst am Erfolg.