Wirtschaftliche Gesichtspunkte sind ausschlaggebend für die Haltung von Big Blue:

IBM hält Defensiv-Stellung in der Unix-Arena

07.11.1986

Die marktpolitischen Strategien der großen Hersteller gehorchen eigenen Gesetzen. Mit der Position von IBM und Digital Equipment im Unix-Geschehen setzt sich Dale Kutnick, Executive-Vice-President der Forschungsabteilung der Gartner Group Inc. mit Sitz in Stamford Connecticut, im folgenden Beitrag auseinander.

Anforderungen von Marktnischen (Erziehungsbereich) und spezialisierten oder vertikalen Märkten (Militär, Forschung, Technik und Regierung) bestimmen gegenwärtig die Unix-Strategie der IBM. Einige dieser Bereiche benötigen in der Tat Unix-Unterstützung, da die Anwender glauben, ein "Standard"-Betriebssystem erhöhe die Flexibilität. Wichtiger jedoch ist, daß Big Blue diese Arena betreten hat und Unix unterstützen will. Schließlich handelt es sich hier um Multimilliarden-Dollar-Märkte, die die Möglichkeit bieten, sich mit neuen Techniken zu beschäftigen.

Die potentielle Bedeutung von Unix für den kommerziellen Markt verteilter oder abteilungsorientierter Systeme - in erster Linie als Server für PCs - zwingt sogar Unternehmen wie IBM dazu, sich auf dem Unix-Markt zu etablieren. Dadurch wird es Big Blue möglich, die Marktbedingungen aus nächster Nähe zu beobachten. Man kann davon ausgehen, daß sich neue Chancen ergeben werden, wenn Microsoft künftige MS-DOS-Versionen zusammen mit Unix auf die 80386-und 68020-Prozessoren von Intel respektive Motorola bringt, um den Markt für LAN-Server anzugreifen. Es besteht kein Zweifel daran, daß Big Blue in diesem Business mitmischen und vielleicht sogar ein eigenes Unix-Derivat einsetzen wird, das auf dem RT PC läuft.

Die Unix-Strategie der IBM beruht grundlegend auf wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Sollte sich ein substantieller Unix-Markt entwickeln, dann muß das oberste Postulat des DV-Marktführers lauten, nicht nur den vollen Nutzen aus diesem Geschäft zu ziehen, sondern auch eine Führungsrolle einzunehmen. Die IBM kann es sich zwar leisten, einige Betriebssystem-Installationen zu verlieren, aber kann nicht riskieren, ihre Machtstellung aufzugeben.

DEC befindet sich in bezug auf Unix in einer ähnlichen Situation: stillschweigende Unterstützung. Mehr noch - sowohl IBM als auch DEC bieten selbst entwickelte Unix-Implementierungen an (AIX und IX/ 370 von IBM, Ultrix und DEC). Dieser Ansatz ermöglicht den beiden Unternehmen, ihre eigene Unix-Umgebungen zu etablieren, wodurch die bei Unix propagierte Portabilität und Hardwareunabhängigkeit an Bedeutung verlieren wird. Allerdings offeriert ein Großteil der Unix-Anbieter eine angepaßte Version, und zwar unter dem altruistischen Deckmantel, damit verschiedene Nachteile ausmerzen zu wollen.

HW-Unabhängigkeit ist ein notwendiges Übel

Hardwareunabhängigkeit liegt keineswegs im Interesse von DEC, IBM und den meisten anderen etablierten Herstellern. Diese Anbieter werden dennoch das Unix System V von AT&T sowie dessen Erweiterungen und/oder das Kernsystem der Berkeley Version 4.2 unterstützen. Im Normalfall benötigt ein unabhängiger Softwareanbieter ein bis drei Monate, um Unix auf ein System mit eigenen Schnittstellen zu portieren.

Die Basis-Anwendung bleibt dieselbe, allerdings besteht die Möglichkeit, daß sich die Benutzerschnittstellen und die interne Verarbeitung ändern. Daher könnte die IBM mit ihren Unix-Eigenentwicklungen ohne weiteres in diesem Marktsegment mitkonkurrieren und gleichzeitig ein gewisses Maß an Kontrolle behalten. Big Blue ist in der Lage, schnell auf Unix-Entwicklungen zu reagieren und De-facto-Standards mit ihren Implementierungen voranzutreiben. Dies trifft insbesondere auf den RT PC zu, Wahrscheinlich werden die Armonker in den nächsten zwei Jahren die Weiterentwicklung dieses Systems forcieren. Die Performance soll sich im nächsten Jahr mehr als verdoppeln und das Preis-Leistungs-Verhältnis im Vergleich zu den Maschinen auf 68020-Basis wettbewerbsfähiger werden.

IBM braucht ohne Zweifel ein spezielles Produkt, um unter anderem mit der MicroVAX von DEC und den Workstations von Sun Microsystems und Apollo mithalten zu können. Der Konkurrenzkampf wird viele Formen annehmen und das Schauspiel MicroVAX und RT-PC gegen Mikros "von der Stange" (auf der Basis von 68020- und 80386-Prozessoren) wird eine davon sein.

Dennoch hält sich IBM mit der Vermarktung von Unix zurück und plant aller Wahrscheinlichkeit nach auch kein stärkeres Engagement in naher Zukunft. Der Marktführer stellt ganz klar seine VM-Betriebssystemumgebung gegen Unix im technisch-wissenschaftlichen Bereich. Erst kürzlich hat Big Blue VM ausgebaut und die Preispolitik sowie Benutzerfreundlichkeit verbessert - speziell, um bei den kommerziellen Abteilungsrechnern mit ihren Low-end-4300-Systemen mitreden zu können. Die Unterstützung von Unix auf derartigen Hardware-Ebenen wird jedoch so lange dürftig bleiben, bis wichtige Anwendungsprogramme und Utilities verfügbar sind und die Nachfrage bei den Anwendern steigt. Für technisch-wissenschaftliche Anwendungen hat IBM die technische Leistung des Betriebssystems VM um das Eineinhalb bis Zweifache erhöht. Auch hebt Big Blue die Benutzerfreundlichkeit, die Vielfalt an Programmen und die Kompatibilität von VM gegenüber Unix hervor.

RT PC war trotz seines Potentials ein Fehlschlag

Bislang müßte die IBM eigentlich immer noch IX/370-Systeme ausliefern; statt dessen hat sie UTS von Amdahl für die wenigen Fälle angeboten, in denen Unix in einer /370-Umgebung benötigt wurde. Der RT PC war trotz seines Potentials ein völliger Fehlschlag. Bisher sind weniger als 5000 Stück ausgeliefert worden.

Nichtsdestotrotz dürften Big Blue und DEC fortfahren, Unix mit selbstgestrickten Umgebungen solange wie möglich zu unterstützen. Schließlich werden die meisten Großanwender irgendwann Unix einsetzen - und die IBM wird mit Sicherheit ihre Finger im Spiel haben.