Europäische DV-Hersteller wollen sich an CCITT-Standards orientieren:

IBM blitzt bei ECMA mit LU 6.2 als OSI-Norm ab

21.02.1986

CW-Bericht, Claudia Marwede-Dengg

GENF - Mit deutlicher Mehrheit hat sich die European Computer Manufacturers Association (ECMA) auf ihrer letzten Sitzung gegen IBMs LU 6.2 als OSI-Norm für die Transaktionsverarbeitung ausgesprochen. Statt dessen soll nun wie im Office-Automation-Bereich mit X.400 ein an den CClTT-Empfehlungen orientierter Ansatz weiterverfolgt werden.

Zwei Abstimmungen standen in Genf auf der Tagesordnung des Technischen Komitees (TC) 32 der ECMA: Zunächst ging es in der Working Group 2 um die Frage, ob man sich weiterhin mit LU 6.2 als Normierungsvorschlag für Transaction Processing (TP) beschäftigen soll. Dies wurde mit zehn Nein-Stimmen abgeschmettert, ein Mitglied, nämlich NCR, - enthielt sich der Stimme - IBM war dafür.

Bei der zweiten Abstimmung im gesamten TC 32 stand zum einen zur Debatte, welche Alternative statt dessen in Betracht kam, darüber hinaus ging es aber auch darum, die bisher getrennt betrachteten Themen TP und Verteilte Bürosysteme mit einem methodischen Ansatz zu verklammern.

Von den 20 TC-Mitgliedern sprachen sich 16 dafür aus, sich auch bei der Transaktionsverarbeitung auf die ROS-Methodologie (ROS = Remote Operations Service) zu stützen, um so das Interworking zwischen TP und Büroanwendungen so einfach wie möglich zu gestalten. Drei ECMA-Mitglieder - NCR, Ericsson und Bull - enthielten sich in diesem Fall der Stimme, der Marktführer stimmte gegen den Vorschlag.

IBM hatte bis zuletzt versucht, LU 6.2 als OSI-Normungsvorschlag durchzudrücken, obwohl man zunächst dieser von einigen ECMA-Mitgliedern-ventilierten Idee ablehnend gegenüber gestanden hatte. Der Hintergrund für diesen zunächst überraschend erscheinenden Vorschlag: Seit der Präsentation von LU 6.2 vor etwa zwei Jahren galt diese Programmschnittstelle zwischen SNA und der Anwendung als strategisches IBM-Produkt, über das der Mitbewerb gerne mehr gewußt hätte. Über eine Standardisierung

innerhalb der ECMA, so die heimliche Hoffnung damals, ließ sich da möglicherweise Abhilfe schaffen.

Darüber hinaus bot das Thema LU 6.2 nach Meinung einiger damals Beteiligter auch eine ausgezeichnete Gelegenheit, zwei Dinge zu prüfen: Zum einen, wie IBM es mit der im "Undertaking" gegenüber der EG-Kommission erklärten offeneren Schnittstelleninformation halten wollte, und zum anderen, welche Linie der Marktführer in Sachen OSI einzuschlagen gedachte.

Bei IBM vollzog sich im Laufe der Zeit in puncto Normierung von LU 6.2 als OSI-Standard eine Kehrtwende um 180 Grad. Da der OSI-Zug nicht mehr aufzuhalten war, gab man in Armonk Mitte letzten Jahres die Losung aus, sich an die Spitze der Bewegung zu setzen. Nunmehr ließ IBM nichts unversucht, innerhalb der ECMA eine Mehrheit für LU 6.2 als TP-Vorschlag zustande zu bringen, zumal eine positive ECMA-Entscheidung auch für die weitergehende Behandlung dieses Themas in der ISO und im CCITT eine wichtige Vorentscheidung gewesen wäre.

Nachdem die ECMA zudem offiziell angefragt hatte, ob IBM etwas dagegen habe, wesentliche Teile von LU 6.2 als Norm zu verwenden und zu welchen Konditionen dies möglich sei, sondierte der Marktführer in mehreren Einzelgesprächen mit ECMA-Mitgliedsfirmen das Terrain. In deren Reihen waren die Meinungen geteilt: Die Techniker waren durchaus geneigt, dem Vorschlag zuzustimmen, da man auf diese Weise schnell eine Implementierung für die dringend benötigte Transaktionsverarbeitung gewinnen würde. Zudem, so lautete ein weiteres Argument, müsse ohnehin jeder der IBM-Mitbewerber schon aus marktpolitischen Gründen eine protokollarisch äquivalente Implementierung für SNA anbieten.

Die Unternehmensstrategen dagegen sahen von vornherein den Pferdefuß eines solchen Vorschlags. Selbst wenn IBM tatsächlich die "verbs and documents", die entsprechenden Detailinformationen über LU 6.2, zur Verfügung stellen sollte, wäre der Produktvorsprung des Marktführers mindestens zwei bis drei Jahre und damit immer noch beträchtlich gewesen. Darüber hinaus hatte Big Blue zu verstehen gegeben, daß auch ein auf LU 6.2 basierender Standard natürlich "subject to changes" sein werde.

Nichtsdestotrotz suchte IBM die übrigen ECMA-Mitglieder für den LU-6.2-Vorschlag zu erwärmen und machte im Laufe der Verhandlungen immer mehr Zugeständnisse: Für den Fall der Annahme wurde eine großzügige Copyright-Regelung in Aussicht gestellt, die quasi auf eine unentgeltliche Nutzung der IBM-Dokumentation hinauslief, als Lizenzgebühr wollte man lediglich eine Schutzgebühr von 10 000 Dollar pro Jahr und Unternehmen verlangen. Daneben wurden einigen ECMA-Mitgliedern - nicht allen - signalisiert, man werde diesen auch LU-6.2-Weiterentwicklungen zugänglich machen.

Seit Anfang des Jahres zeichnete sich dann aber innerhalb der ECMA doch ein Trend in Richtung Ablehnung des IBM-Angebots ab. Am spektakulärsten bezog dabei die englische ICL Stellung: In einem ausführlichen Papier begründete sie, warum sie gegen den Vorschlag der IBM votieren werde. Auch die übrigen DV-Hersteller wurden allmählich "stutzig", so ein Insider aus der Normungsszene, als IBM sein ursprüngliches Angebot mehrmals "nachbesserte" . Allerdings war bis zuletzt offenbar allen Beteiligten nicht klar, ob der Marktführer nicht doch Erfolg haben würde mit seinem Normungsversuch.

Die erste Reaktion von Big Blue nach der mißlungenen Standardisierungsaktion war "die einer beleidigten Leberwurst", wie es die Konkurrenz umschrieb. Das Angebot, daß die ECMA die "verbs and documents" für LU 6.2 verwenden darf, wurde umgehend widerrufen. "Jetzt muß die IBM sich eine andere Strategie überlegen, wie sie von SNA zu OSI kommt", kommentierte ein Teilnehmer der Genfer Sitzung die Auswirkungen der ECMA-Entscheidung auf den Marktführer.

Die ECMA-Mitglieder haben indes auch nach der Ablehnung keinen Grund zum Aufatmen. Sie sind aufgerufen, dies steht expressis verbis ... der zweiten in Genf verabschiedeten Resolution, so schnell wie möglich aus den bereits vorhandenen Standards entsprechende "requirements" für die Transaktionsverarbeitung auszuwählen und festzulegen - und dies auch noch einvernehmlich.