Vor dem Hintergrund verzögerter Systementwicklungen für das DFN:

IBM bekräftigt "halbes Ja" in Richtung OSI

26.07.1985

STUTTGART/MÜNCHEN - Kompromißbereitschaft hat der Marktführer im Konflikt mit dem Berliner DFN-Verein signalisiert: Das neue "Europäische Netzwerk Center" (ENC) in Heidelberg soll die immer wieder verzögerten OSI-Entwicklungen in Angriff nehmen. Die neuerlich bekräftigte generelle OSI-Produktunterstützung ist allerdings an die Verabschiedung internationaler Standards geknüpft.

Die Auseinandersetzung zwischen dem Verein zur Förderung des Deutschen Forschungsnetzes e.V., kurz DFN-Verein, und Big Blue ist ein Lehrstück in Sachen Herstellermacht, zudem spiegelt sich darin ...r auch, festgemacht am Thema OSI, die Ohnmacht europäischer Tochtergesellschaften gegenüber der amerikanischen Mutter wider. Als sich im März 1984 der DFN-Verein mit dem Ziel konstituierte, bis 1987/88 für den deutschen Wissenschaftsbereich ein herstellerneutrales und - soweit wie möglich - auf internationalen Standards basierendes Kommunikationsnetz nach dem OSI-Referenzmodell der ISO auf die Beine zu stellen, war auch die IBM Deutschland GmbH mit von der Partie. Auf Anregung des damaligen Big-Blue-Vertreters Alfred E. Esslinger - so erinnert sich ein Teilnehmer - wurde sogar in der Satzung als Vereinszweck die Realisierung eines offenen Systems festgeschrieben.

Der Marktführer dokumentierte seine Unterstützung aber auch dadurch, daß er die Entwicklung der OSI-Schichten 4 und 5 für MVS-Systeme in Aussicht stellte. Da der DFN-Verein nur in den Bereichen Entwicklungsaufträge vergeben wollte, in denen keine Herstellerprodukte verfügbar beziehungsweise keine Entwicklungen durch die Firmen absehbar waren, nahm man von einem entsprechenden Angebot der Deutschen Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt (DFVLR) in Oberpfaffenhofen wieder Abstand und verließ sich auf IBM. Bei den VM-Systemen rechnete der DFN mit der Ankündigung der SNA-X.25-Schnittstellen, so daß sich auch hier eigene Entwicklungen erübrigten. Für die anwendungsorientierten Schichten 5 bis 7 sah das DFN-Konzept vor, bis zur Verabschiedung der internationalen Normen für File Transfer, Remote Job Entry und Message Handling auf der Basis der PIX-Protokolle Übergangslösungen zu stricken.

Als IBM bis zum Juni dieses Jahres - nach Rendlosen Grundsatzdiskussionen" über die Themen File Transfer (FT) und RJE, wie es aus dem DFN heute heißt - außer einer Gateway-Prototyp-Lösung, die Message-Handling zwischen dem vom Marktführer gesponserten "European Academic and Research Network" (Earn) und dem DFN möglich macht, nichts realisiert hatte, trug der DFN-Verwaltungsrat den Konflikt an die Öffentlichkeit. (Zumal Earn immer mehr an Attraktivität gewann und dem DFN potentielle Nutzer aus der deutschen Forschungsszene entzog. Ein weiterer Beitrag zur Earn-DFN-Problematik folgt.)

Kritik am Marktführer

So hieß es in der "Zum Verhältnis von DFN zu Earn" betitelten Stellungnahme in den DFN-Mitteilungen, dem Organ des Vereins, unter anderem: "Leider lassen sich derzeit belastbare Terminaussagen für die IBM-Hostanschlüsse (Dienstrealisierungen) in den Betriebssystemen VM und MVS nicht machen. Der DFN-Verein hat auf Hinweis der IBM keine eigene Entwicklung im MVS-Bereich (u. a. OSI 4/5) begonnen. Darüber hinaus gibt es derzeit keine im DFN-Entwicklungsrahmen verwendbaren Entwicklungsdokumente von IBM für einschlägige Produkte, so daß sich auch die Entwicklung der anwendungsbezogenen Dienste für IBM-Systeme verschiebt."

Im letzten Punkt seines Statements bekräftigte der DFN-Verwaltungsrat noch einmal seinen früheren Beschluß, "Host-Lösungen für MVS- und VM-Systeme zu entwickeln. Er differenzierte dabei seine Haltung für die drei Dienste MHS, RJE und FT:

þZu MHS besteht genereller Konsens, die Entwicklungen gemeinsam mit IBM voranzutreiben.

þZu FT und RJE werden eigene Entwicklungen befürwortet." Abschließend bat das Gremium IBM um Unterstützung der Entwicklungen um möglicherweise auftretende Nachteile zu minimieren". Nachteile für wen, das ließ der Verwaltungsrat offen.

Nach einigem Hin und Her reagierte die Europa-Zentrale der IBM in Paris mit der neuerlichen Absichtserklärung, OSI-Produkte auch für die oberen Ebenen zu entwickeln, sobald diese standardisiert seien und mit der Gründung des ENC, dessen Aufgabenbereich der Marktführer so definierte: "Das Netzwerk Center, welches die IBM jetzt in Heidelberg aufbaut, wird im Unternehmen der europäische Schwerpunkt für Forschungen und Experimente bei zukunftsweisenden Netzwerk-Systemen sein. Es wird Mitgliedern europäischer Hochschul- und gemeinnütziger Forschungs-Organisationen kostenlos offenstehen." Das bedeutet im Klartext nichts anderes, so ein DFN-Mitglied, daß das ENC in Kooperation mit dem DFN OSI-Entwicklungen im VM-Bereich erarbeiten wird. Eingedenk der früheren schlechten Erfahrungen mit den nicht eingehaltenen Zusagen will der DFN dieses Mal eine entsprechende Vereinbarung allerdings schriftlich und mit konkreten Terminaussagen fixieren. Bis Ende des Jahres werde sich dann zeigen, wie kooperationsbereit IBM wirklich sei.

Kooperation ENC-GMD

IBM seinerseits über die Zusammenarbeit ENC - DFN: "Erste Hauptaktivität des ENC ist ein gemeinsames Projekt mit der GMD zur Entwicklung eines OSI-Gateways zwischen DFN und Earn. Zusätzlich . . . arbeiten das ENC und das DFN bei einem anderen Projekt zusammen, das den Aufbau eines OSI-Netzwerkes zum Ziel hat . . ." Gleichzeitig unterstreicht Big Blue nochmals seine Haltung zu OSI: "Die Verknüpfung von Systemen unterschiedlicher Hersteller hat für uns überragende Bedeutung, und aus dem Grunde wird das ENC besonderes Gewicht auf OSI legen."

Innerhalb der OSI-Befürworter stößt dieses Commitment jedoch zu nächst noch auf Skepsis. Es sei bezeichnend, so heißt es beispielsweise, daß das Thema OSI in einem Forschungsinstitut weit im Vorfeld der eigentlichen Produktentwicklung angesiedelt sei und nicht innerhalb einer IBM-Gesellschaft. Ein weiteres Indiz dafür, daß sich der Marktführer immer noch mit OSI schwertue, sei die Feststellung, IBM werde die Standards für die stark anwendungsorientierten Schichten 6 (Darstellung) und 7 (Anwendung) "untersuchen, sobald sie verabschiedet sind. Die IBM wird unter Berücksichtigung ihrer Geschäftsinteressen Produkte entwickeln, die diesen Standards entsprechen."

Nach Meinung von IBM-Usern innerhalb des DFN zeigt sich in solchen Äußerungen, daß es offenbar innerhalb der IBM nach wie vor erhebliche Meinungsverschiedenheiten zwischen der Konzernzentrale in Armonk und der IBM Europe sowie den europäischen Töchtern über die künftige OSI-Strategie gebe. Darauf sei letztlich auch die gegenüber dem DFN praktizierte Hinhaltetaktik zurückzuführen gewesen. Die Arbeit des ENC werde zeigen, wie ernst es dem Marktführer mit der Unterstützung offener Systeme wirklich sei.