"I fell in love with IBM"

19.02.2002
Von 
Wolfgang Herrmann war Editorial Manager CIO Magazin bei IDG Business Media. Zuvor war er unter anderem Deputy Editorial Director der IDG-Publikationen COMPUTERWOCHE und CIO und Chefredakteur der Schwesterpublikation TecChannel.
MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Wenn Sam Palmisano am 1. März die Leitung der International Business Machines Corp. übernimmt, findet er ein aufgeräumtes Unternehmen vor, dessen Entwicklung er fast 30 Jahre lang beeinflusste. Doch ohne Louis Gerstner, den Quereinsteiger aus der Nahrungsmittelindustrie, wäre der Supertanker IBM womöglich auf Grund gelaufen.
Wachablösung in Armonk: Nach neun Jahren als CEO macht Louis Gerstner (rechts) Platz für Sam Palmisano.    Quelle: IBM
Wachablösung in Armonk: Nach neun Jahren als CEO macht Louis Gerstner (rechts) Platz für Sam Palmisano.    Quelle: IBM

Am Tiefpunkt seiner existenziellen Krise war IBM dem "Spiegel" eine Aufmachergeschichte wert. "Überfordert und unregierbar" betitelte das Nachrichtenmagazin im Frühjahr 1993 seinen achtseitigen Abgesang auf das "einst profitabelste Unternehmen der Welt". 1987 noch als wertvollste US-amerikanische Firma gefeiert, schrieb Big Blue für das Finanzjahr 1992 einen Verlust von fast fünf Milliarden Dollar.

John Akers, seit 1986 CEO des Konzerns, hatte ein regelrechtes "Blutbad" hinterlassen, wie es der New Yorker Journalist Doug Garr ausdrückte. Zwischen 1990 und 1993, als der Kurs der IBM-Aktie um rund 30 Prozent abstürzte, mussten die Anteilseigner zusehen, wie sich fast sechs Milliarden Dollar in Luft auflösten. In den letzten Jahren seiner Amtszeit reduzierte Akers die Belegschaft um ein Viertel, schloss zehn Werke und senkte die Produktionskapazität um vierzig Prozent. All diese Maßnahmen lösten das Kernproblem nicht: Die Abhängigkeit vom Großrechnermarkt, der durch die wachsende Konkurrenz dezentraler Mini-Computer in die Bedeutungslosigkeit zu versinken drohte.

Nun sollte ein Außenseiter den strauchelnden Riesen aus der Krise führen: Louis ("Lou") Gerstner, ein Mann ohne jede Erfahrung in der IT-Branche, wurde am 1. April 1993 zum CEO und Chairman bestellt. "Nicht einmal das Firmenkürzel müssen sie ändern", spottete Sun -Chef Scott McNealy. "IBM für International Biscuit Maker, das klingt doch auch ganz gut." Der damals 51-jährige Gerstner hatte zuvor vier Jahre lang den Nahrungsmittelkonzern RJR Nabisco geleitet. Ausgerechnet dieser "Keksverkäufer" sollte es schaffen, den Supertanker IBM vor dem Untergang zu retten?

Er schaffte es. Seit seinem Amtsantritt legte der Aktienkurs um 800 Prozent zu, der Marktwert des Unternehmens stieg um 180 Milliarden Dollar. Im Vergleich zur Bilanz von 1994, dem ersten vollständigen Jahr unter Gerstners Ägide, kletterte der Gewinn von drei Milliarden auf 7,7 Milliarden Dollar im Geschäftsjahr 2001, der Umsatz wuchs von 64 Milliarden auf 86 Milliarden Dollar.

Eine neue Sicht der Welt

Die Leistungen des scheidenden CEO lassen sich mit Zahlen und Statistiken nur unzureichend bemessen. Er habe es geschafft, einem nach innen gewandten Unternehmen eine neue Kultur zu geben, "eine neue Sicht der Welt", kommentiert David Yoffie, Professor an der Harvard Business School. Von einem bürokratischen, technikzentrierten Moloch habe sich IBM zum kundenorientierten Anbieter von IT-Lösungen gewandelt, loben selbst ausgewiesene Kritiker.

Ausschlaggebend dafür war nicht zuletzt die pragmatische Herangehensweise des neuen Steuermanns, den nicht wenige als "latent technophob" und gegenüber der Innovationsflut im IT-Markt besonders misstrauisch bezeichneten. Der ehemalige McKinsey-Berater Gerstner machte daraus keinen Hehl: "Das Letzte, was IBM jetzt braucht, sind Visionen", erklärte er kurz nach seinem Amtsantritt, was ihm in der Folge heftige Kritik einbringen sollte.

Tatsächlich waren für die Erstversorgung des Notfallpatienten IBM nicht technische Visionen, sondern betriebswirtschaftlich ausgerichtete Maßnahmen vonnöten. Die beherrschte der Neue. Nach einem MBA-Abschluss an der Harvard Business School und dem Einstieg bei der renommierten Unternehmensberatung McKinsey hatte er bei American Express eine steile Karriere hingelegt. 1989 wechselte er als CEO zu RJR Nabisco; in kurzer Zeit schaffte er es, einen milliardenschweren Schuldenberg zu halbieren.

"Wir können nicht lange herumsitzen"

In den ersten zwei Jahren als IBM-Chef gelang ihm eine weit greifende Reorganistion. Seine wahrscheinlich wichtigste strategische Entscheidung traf er gleich zu Beginn: Alle von Akers eingeleiteten Schritte zur Dezentralisierung ließ er zurücknehmen; der weltweit verzweigte Konzern sollte nicht in eine Gruppe selbständig agierender Unternehmen zerschlagen werden.

"Wir können nicht lange herumsitzen und das Problem studieren", gab er in einem seiner ersten Interviews zu Protokoll. Unprofitable Bereiche stieß der ungeduldige Workaholic systematisch ab, straffte die Management-Strukturen und nahm die bis dato relativ selbständig agierenden Auslandstöchter wieder an die kurze Leine. Wer nicht mitzog, hatte das Nachsehen: Hans-Olaf Henkel, langjähriger Deutschland- und Europa-Chef, musste 1994 seinen Abschied nehmen, nachdem er sich gegen die Machtkonzentration in der Zentrale gewehrt hatte.

Erfolgsentscheidend für die Rekonvaleszenz des blauen Riesen war auch die Personalauswahl des neuen Chefs. 1993 holte er den ehemaligen Chrysler-Finanzchef Jerome York an Bord. Als Chief Financial Officer (CFO) sanierte er das marode Buchungs- und Finanzsystem grundlegend. Ohne ihn, so ein Analyst rückblickend, "wäre Gerstner nach zwei Jahren gefeuert worden."