Hochschulen werden ihrer Verantwortung nicht gerecht

21.07.1989

Über Jahre hinweg hatte sich in den Hochschulen intern und extern erzeugter Druck aufgestaut. Es war aber nicht allein der wachsende Druck, der von den miserablen Rahmenbedingungen für Forschung und Lehre ausging und sich in öffentlich vorgetragenem Protest Luft verschaffte. Dieser Druck überlagert und beschleunigt vielmehr tiefgreifende Veränderungen in den Hochschulen, auf die verschiedene Faktoren einwirken. Innere Entwicklungen in den Wissenschaften laufen mit wachsenden gesellschaftlichen Anforderungen an Forschung und Lehre und mit strukturellen Eingriffen seitens der Hochschulpolitik in das Gefüge der Hochschulen zusammen.

In vielen Bereichen hat das Wissen, das in den Wissenschaften entwickelt wird, eine Qualität erreicht, die es praktischer Nutzung in Unternehmen und Verwaltungen und im Lebensalltag der Bevölkerung zugänglich macht. Die Mauern des Elfenbeinturms sind längst geschliffen.

Die Austauschprozesse zwischen Hochschule und Gesellschaft haben sich ausgeweitet und werden durch zahlreiche Einrichtungen des Wissens- beziehungsweise Technologietransfers unterstützt. Am Rande des Wissenschaftsbetriebs entstehen neue Forschungs- und Entwicklungslabors, sogenannte An-Institute und Technologieparks. Die Grenzen zwischen Hochschulen und gesellschaftlichem Umfeld werden immer durchlässiger, Wissenschafts- und Wirtschaftspotentiale immer enger vernetzt.

Beim Umbau der Hochschulen spielen die Technologien - an vorderster Front die Informationstechnologien - eine Schlüsselrolle. In der Informatik und den ihr nahestehenden Wissenschaftszweigen kulminiert die Entwicklung. Sprunghaft steigende Nachfrage nach Studienplätzen geht einher mit einer rasanten Expansion von Stellenplänen und Sachmittelhaushalten. Der Boom wird angeheizt durch reichlichen Zufluß von Drittmitteln aus privater Wirtschaft und öffentlicher Hand.

Angesichts solcher Veränderungen richtet sich die Kritik in den Hochschulen nicht nur gegen die unzureichenden Rahmenbedingungen für Forschung und Lehre. Ins Zentrum der Debatte rückten mehr und mehr auch inhaltlich qualitative Defizite, die mit dem Umbau der Hochschulen freigelegt werden beziehungsweise entstehen. lm Unterschied zur Wende von den sechziger zu den siebziger Jahren, die stärker durch die Kultur- und Sozialwissenschaften geprägt waren, hat sich heute ein Schwerpunkt der Auseinandersetzung in technikorientierten Wissenschaften, nicht zuletzt in den Informatikfachbereichen gebildet.

An erster Stelle waren es die Studierenden, die nicht nur "hier und jetzt" eine Verbesserung der Lernbedingungen durchsetzen und so wieder Spaß am Studium gewinnen wollten, sondern die darüber nachzudenken begannen, welchen geselschaftlichen Nutzen und welche Gefahren von den studierten Wissenschaften ausgehen, welcher Sinn ihre Ausbildung und welche Interessen ihre zukünftige Berufspraxis bestimmen. Das Bewußtsein schärfte sich für das Mißverständnis zwischen der gesellschaftlichen Bedeutung der Technikentwicklung und der kritischen Reflexion ihrer gesellschaftlichen Ursachen, Begleiterscheinungen und Folgen sowie der Suche nach Wegen, sie sozial- und umweltverträglich zu gestalten.

Dieses Mißverständnis tritt - landauf, landab - in der Hochschulrealität zutage. Während ein High-Tech-Institut nach dem anderen aus dem Boden gestampft und eine Stelle nach der anderen in die Informatik gepumpt wird, bleiben Fragen nach der gesellschaftlichen Verantwortung der zufälligen Initiative von Lehrenden und Lernenden überlassen.

Einschlägige Lehrangebote sind rar, Vorschriften in Studien- und Prüfungsordnungen fehlen weitgehend. Einzelne Projekte oder Programme wie das nordrhein-westfälische Programm zur sozialverträglichen Technikgestaltung hinterlassen keine dauerhaften Spuren in den Forschungs- und Ausbildungsschwerpunkten der Hochschulen.

Ohne eine ausreichende Zahl von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich diesen Fragen in interdisziplinärer Kooperation nicht nur nebenbei sondern in der Hauptsache annehmen können, und ohne die Schaffung von institutionellen Infrastrukturen in den Hochschulen, angemessen ausgestatteten Einrichtungen, werden alle Beteuerungen des Beitrags von Wissenschaft und Hochschulen zur sozial- und umweltverträglichen Technikgestaltung Sonntagsreden bleiben. Dies wäre fatal.

Nahezu ein Viertel jedes Alter Jahrgangs nimmt heutzutage ein Studium auf. Die Hochschulen wurden nicht nur von vielen durchlaufen, die von den technischen Entwicklungen in ihren Arbeits- und Lebensumständen betroffen sind. Als künftige Technikanwender, -entwikler und -entscheider sind Hochschulabsolventen einflußreiche Akteure des sozialen und technischen Wandels.

Die soziale Beherrschbarkeit dieses Wandels hängt nicht nur von den materiellen, rechtlichen und politischen Bedingugen zur Beteiligung an Technikgestaltung, sondern auch von Wissen und Kompetenzen der Akteure des Wandels. Verantwortliches gesellschaftliches Handeln kann nur auf einem adäquaten kognitiven Fundament aufbauen. Die Ausbildung sollte deshalb die Kenntnis der gesellschaftlichen Ursachen, Erscheinungsform und Begleitumstände technischer Entwicklung, insbesondere auch der unterschiedlichen Betroffenheiten und Interessenlagen gesellschaftlicher Gruppen sowie der daraus entstehenden Konflikte ebenso umfassen wie die Kenntnisse von Möglichkeiten des aktiven Eingriffs in diese Prozesse.

Eine Initiative, die Hochschulausbildung mit dieser Zielsetzung neu zu gestalten, muß nicht beim Nullpunkt beginnen. In Berufsverbänden und Wissenschaftlerorganisationen ist die Debatte über die gesellschaftliche Verantwortung für die Technikentwicklung wieder aufgelebt. An einigen Informatikfachbereichen existiert zum Beispiel seit längeren Jahren eine Lehrpraxis, die sich auf den Zusammenhang von Informatik und Gesellschaft erstreckt. Die Erfahrungen können an anderen Hochschulen genutzt werden. Die Gesellschaft für Informatik hat Empfehlungen zur Einbeziehung gesellschaftlicher Aspekte in die Informatikausbildung zur Diskussion gestellt. In eigenen Untersuchungen in verschiedenen Fachbereichen hat sich eine bemerkenswerte Offenheit vieler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für Fragen gesellschaftlicher Verantwortung und sozialverträglicher Technikgestaltung gezeigt.

Die gängige Ausbildungspraxis bleibt jedoch weit hinter den Erfordernissen zurück. Die Hochschulen werden ihrer Verantwortung gegenüber den Fragen der Studierenden nicht gerecht. Zur Wahrnehmung dieser Verpflichtung sind sie in Verantwortung zu nehmen. Dazu müssen sie jedoch erst in Stand gesetzt werden. Dafür trägt die Hochschulpolitik Verantwortung.