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Virtuell abgedriftet

Hilfe gegen Computersucht

31.03.2009
Leere Pizzakartons stapeln sich auf dem Fußboden, Jalousien sperren das Tageslicht aus und das Zimmer wird höchstens zum Pinkeln verlassen - notfalls tut es aber auch eine leere Colaflasche.

Clemens (17) sitzt am Computer und spielt. Er kann nicht mehr ohne. Die virtuelle Welt ist ihm wirklicher geworden als seine tatsächliche Umwelt. "Manche spielen zehn oder zwölf Stunden jeden Tag, jede Nacht. Die finden da allein nicht mehr raus", berichtet Oliver Bilke, Chefarzt der Vivantes-Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hellersdorf und am Humboldt-Klinikum. Dort eröffnen deshalb am 1. April zwei Spezialambulanzen für Jugendliche mit Computerproblemen - zwei der ersten dieser Art bundesweit.

"Wir wollen helfen, bevor der Kontakt zur Realität verloren geht", sagt Bilke. Seit zwei Jahren schon kümmert er sich zusammen mit seinen Kollegen um Jugendliche, die so stark vom Computer abhängig sind, dass sie eine stationäre Therapie brauchen. "Nach einer gemeinsamen Diagnose geht es darum, eine Abstinenzphase durchzuhalten. Dann sehen wir, wer wirklich süchtig ist, also körperliche Entzugserscheinungen hat, wenn ihm kein PC-Zugang und kein Handy mehr zur Verfügung steht."

Die jungen Männer - nur drei der rund 40 stationären Patienten waren Mädchen - mussten anschließend hart an sich arbeiten. "Oft können sie erst nach monatelanger Therapie in ihre Familie zurückfinden und wieder zur Schule gehen", berichtet Bilke, denn in mehr als der Hälfte der Fälle stünden Depression oder Zwangserkrankungen im Hintergrund. Mühevoll müssten sie verloren geglaubte Ressourcen wiederentdecken, soziale Kompetenzen neu trainieren und sich mit Gleichaltrigen auseinandersetzen - und zwar von Angesicht zu Angesicht.

Mit der Ambulanz wollen die Berliner nun einen Schritt früher ansetzen: "Wir haben diejenigen im Visier, die selber und gemeinsam mit ihren Eltern noch mehr eigene Ressourcen haben." In enger Abstimmung mit der Familie, mit der Schule und auch dem Freundeskreis soll der Computerkonsum auf ein Normalmaß reduziert werden. "Wenn die Computerwelt einen so großen Raum einnimmt, dass kaum noch Freunde Platz haben, Familienleben und Schulleistungen leiden, ist es Zeit für eine Beratung", sagt der Experte.

Eltern sollten frühzeitig Grenzen setzen. "Und zwar anders als bei dem Jungen, der uns stolz davon berichtete, dass die Mutter seine Computerzeit sehr wohl regele: 'Nach Mitternacht darf ich nur noch chatten, aber nicht mehr spielen'". Bilke glaubt, dass die Gefahr für die Nachwachsenden angesichts der immer aufwendigeren Rollenspiele und der fortschreitenden Integration neuer Medien in den Alltag noch größer wird. "Ein Achtjähriger, der etwa ADS hat oder lernbehindert ist, ist besonders gefährdet."

Nicht nur durch Spiele, auch durch ständiges Handy- und E-Mail-Checken stünden viele Jugendliche ständig "unter Strom". Und auch die Mädchen geraten nach Auffassung des Experten zunehmend ins Visier - etwa, indem zusätzliche Spieloptionen über die allseits beliebten Sammelkarten zu kaufen seien. "In Frankreich und England gibt es bereits ein Spiel, das den Schlankheitswahn fördert. Hungert man dabei seine Taille dünn genug, kriegt man Punkte für eine Nasen-Schönheits-OP. Das ist besonders perfide." Während die Jungs auch bei den Computerspielen auf Leistung und Wettbewerb setzten, sei den Mädchen der Beziehungsaspekt wichtiger. "Wenn man sich aber mit der Freundin nur noch virtuell vergleicht und nicht mehr körperlich, wenn man nebeneinander sitzt und quatscht, dann fehlen wichtige Entwicklungsschritte." (dpa/tc)