Klassische Organisationen stehen am Scheideweg

"Hierarchien sind die wahren Ideenkiller"

11.02.2000
Der Umgang mit Informationen wird die künftige Arbeitswelt maßgeblich bestimmen. Welche Auswirkungen neue Arbeitsformen auf die Beschäftigung und die Gesellschaft haben, wollte Ina Hönicke* von Ulrich Klotz, Technologieexperte beim Vorstand der IG Metall, wissen.

CW: Sie stellen in Ihrem Artikel "Die Herausforderungen der Neuen Ökonomie" (Gewerkschaftliche Monatshefte 10/99) die provokante These auf, dass die Arbeit von morgen nur noch wenig mit unserem heutigen Verständnis von Arbeit zu tun haben wird.

Klotz: Das stimmt. Um besser zu verstehen, was derzeit passiert, lohnt es, einmal zurückzublicken: Die heutige Situation lässt sich durchaus vergleichen mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft. In der Agrargesellschaft arbeiteten Menschen jahrtausendelang gemäß dem Rhythmus der Natur. Mit der Industrialisierung wurden Menschen dann auf einmal gezwungen, sich zur selben Zeit am selben Ort zu versammeln, um gemeinsam zu arbeiten. Nur so ließen sich Dampfmaschinen als zentrale Energiequellen rationell nutzen. Dieser Zwang brachte allmählich die Arbeitsdisziplin des Industriezeitalters hervor. Dabei entstand unser heutiges Verständnis von Arbeit als räumlich und zeitlich festgelegte, kontinuierlich abzuleistende Erwerbsarbeit. Die Industrialisierung trennte Lebens- und Arbeitsraum sowie Arbeits- und Freizeit und schuf vielerlei Grenzen, etwa zwischen verschiedenen Lebensphasen wie Ausbildung, Arbeit und Ruhestand. Alles Dinge, die noch gar nicht so alt sind, aber uns heute selbstverständlich erscheinen.

CW: Was verändert sich jetzt?

Klotz: Heute lassen sich mit Hilfe der Informationstechnik viele Tätigkeiten von den Zwängen, die die Industrialisierung mit sich brachte, befreien. Statt Menschen zur Arbeit zu transportieren, kann man den Arbeitsgegenstand Information zu den Menschen bringen. Der Informationsarbeiter kann überall und jederzeit tätig sein. Arbeit zerfällt in viele unterschiedliche Formen. Dabei werden die Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeit, Wohn- und Arbeitsort, Lernen und Arbeiten sowie zwischen abhängiger und selbständiger Beschäftigung zunehmend unscharf. All diese Begriffe und Kategorien verlieren allmählich an Bedeutung, das gilt auch für den Begriff Arbeitsplatz.

CW: Kommt jetzt das vielzitierte "Ende der Arbeit"?

Klotz: Nein, die Arbeit wird uns auch in Zukunft nicht ausgehen. Aber künftig wird Arbeit wieder mehr begriffen werden als etwas, was man tut, und nicht als etwas, was man hat. Natürlich löst ein solch fundamentaler Wandel bei vielen Menschen Ängste aus. Das war zu Beginn der Industrialisierung kaum anders - wir haben aber gesehen, dass solche Umbrüche auf lange Sicht auch viele neue Chancen eröffnen.

CW: Inwieweit verändern sich die Tätigkeiten?

Klotz: Lassen Sie es mich so sagen: Die Arbeit von immer mehr Menschen wird es sein, Daten in Bedeutung und in Wissen zu verwandeln.

Durch die zunehmende Automatisierung von Routinetätigkeiten erhöht sich der intellektuelle Gehalt der verbleibenden Arbeit, sie erfordert zunehmend die Fähigkeit, Informationen zu verstehen, auf sie zu reagieren, sie zu verwalten - und natürlich auch, mit zu viel Informationen umgehen zu können. Laut aktuellen Prognosen werden schon im nächsten Jahrzehnt vier Fünftel aller menschlichen Arbeiten aus dem Umgang mit Information bestehen: beraten, informieren, forschen, entwickeln, organisieren, vernetzen, managen, recherchieren, gestalten und präsentieren - das alles sind typische Formen zukünftiger Arbeit.

CW: Das heißt, wir entwickeln uns zu einer Wissensgesellschaft.

Klotz: Genau genommen leben wir schon längst in der so genannten Informationsgesellschaft, jedenfalls wenn man Gesellschaftsformen nach den Tätigkeiten bezeichnet, die das Leben der Mehrzahl ihrer Mitglieder prägen. Bei mehr als jedem zweiten Erwerbstätigen sind heute Informationen Rohstoff, Werkzeug und Resultat der Arbeit. Dass die Bedeutung von Wissen immer größer wird, kann man übrigens recht gut an der Börse erkennen, insbesondere an dem Auseinanderfallen von Buch- und Börsenwert vieler Firmen.

CW: Wieso das?

Klotz: Zum Beispiel hat heute Microsoft einen größeren Marktwert als die zwölf umsatzstärksten Autokonzerne der Welt zusammen. Angenommen, die Microsoft-Mitarbeiter würden ab morgen nicht mehr zur Arbeit erscheinen - der größte Börsencrash der Geschichte wäre die Folge, denn den Buchwert von Microsoft kann man vergessen. Das Gedankenspiel zeigt, dass in der Informationsgesellschaft die Beschäftigten und deren Wissen, das so genannte Intellectual Capital, das einzig wichtige Kapital sind.

CW: Diese Erkenntnis scheint nicht gerade neu. Dass die Mitarbeiter das wichtigste Gut des Unternehmens sind, sagen Vorstände seit Jahren bei jeder Gelegenheit.

Klotz: Na ja, nicht alles was da so nachgeplappert wird, schlägt sich auch gleich im praktischen Handeln nieder. Das Problem ist doch, dass natürlich auch die Führungsstile, Karrieremuster und Wertvorstellungen im Management vom Industriesystem geprägt worden sind. Der Taylorismus - oben denken, unten ausführen - hatte ja früher durchaus Sinn, als es darum ging, mit Ungelernten und Bauern Industrieprodukte herstellen zu können. Heute werden aber diese funktionellen Hierarchien zunehmend kontraproduktiv, denn jetzt kommt es vor allem darauf an, Ideen und Innovationen zu generieren - und die entstehen nun mal nicht auf Befehl, sondern nur, wenn man Menschen machen lässt.

CW: Kann man nicht auch in einer Hierarchie kreativ sein?

Klotz: Man kann, aber es ist oft nicht erwünscht. Hierarchien sind der Ideenkiller par excellence, da sie nach dem Prinzip "Wissen ist Macht" funktionieren. Neues Wissen und Ideen gefährden fast immer die bestehenden Machtverhältnisse. Deshalb werden Neuerungen, die zwar gut für das Unternehmen, aber schlecht für das Management sind, oft unterdrückt oder zumindest behindert. In einer Hierarchie fährt am besten, wer nur das tut, was dem Vorgesetzten gefällt. Wer neue Ideen einbringt, die vieles in Frage stellen - und das tut eine Innovation per Definition - der handelt sich oft Ärger ein. Hierarchien fördern Opportunismus statt Innovationen. Wir alle kennen es: In unseren Bürokratien wird zwar viel von Innovation geredet, aber die wirkliche Veränderung ist oft gar nicht gewollt.

CW: Was wird aber aus den hierarchisch gegliederten Organisationen?

Klotz: Sie haben nur eine Alternative: Wandel oder Untergang. Unternehmen, die sich in einem immer dynamischeren Markt behaupten müssen, können in ihrem Inneren nicht mehr länger nach dem Prinzip der Planwirtschaft arbeiten, denn die ist viel zu unflexibel. Die Hierarchien werden mehr und mehr durch Netzwerke aus vielen kleineren Einheiten mit größerer Autonomie abgelöst. Diese Organisationsform ist viel lernfähiger, weil hier die Kommunikation zwischen den Menschen nicht mehr so viele Hindernisse, zum Beispiel Hierarchieebenen und Abteilungsgrenzen, überwinden muss - jeder kann und darf mit jedem reden. Wo Informationen nur auf Dienstwegen fließen sollen, ist es ja mit der Lernfähigkeit nicht weit her. Letztlich mündet der Trend zu immer stärkerer Flexibilisierung im Konzept des so genannten virtuellen Unternehmens. Was nach außen als Konzern erscheint, ist dann in Wahrheit nur noch ein sich ständig mit den Aufgaben und Markterfordernissen bildendes und wieder auflösendes Beziehungsgeflecht von Auftragnehmern unterschiedlichsten Typs. Eine wachsende Zahl von Firmen, die heute mit nur einer Handvoll fest angestellter Mitarbeiter mehrstellige Millionenumsätze erzielen, zeigen den Trend.

CW: Das Rückgrat eines Unternehmens werden also Freelancer.

Klotz: Das ist etwas zu einfach. Man muss auch unterscheiden zwischen der alten Ökonomie, in der materielle Gegenstände hergestellt und gehandelt werden, und dem rapide wachsenden Bereich, in dem immaterielle Güter und Werte im Vordergrund stehen. Klassische abhängige Beschäftigungsverhältnisse wird es auch weiter geben. Aber nehmen Sie die Zahlen aus den USA: Da arbeiten vier Fünftel aller Menschen in der alten Ökonomie, aber schon jetzt kommt mehr als die Hälfte aller Unternehmensgewinne aus der so genannten New Economy. In dem einen Bereich sind die Realeinkommen in den letzten zehn Jahren gesunken, im anderen kräftig gestiegen. Insbesondere die Arbeitsformen Soho (Small Office, Home Office) und Freelancing boomen. Tom Malone vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) spricht ja schon von einer "E-Lance-Economy" - Netzwerke von elektronisch verbundenen Freelancern als Rückgrat einer neuen Wirtschafts- und Arbeitsweise. Wie mächtig solche Verbünde sein können, zeigt übrigens der Aufstieg des PC-Betriebssystems Linux, das als Gemeinschaftswerk weltweit verteilter freischaffender Programmierer im Internet entstand. Ein hierarchisch organisiertes Großunternehmen wie IBM hätte das wohl kaum geschafft.

CW: Das hört sich alles sehr vielversprechend an, sehen Sie denn nur Vorteile ?

Klotz: Jede Veränderung hat Licht- und Schattenseiten. Wenn man überall und jederzeit arbeiten kann, dann heißt "Nie mehr ins Büro" auch manchmal "Nie mehr Feierabend". Wenn Menschen nach dem Arbeitsergebnis und nicht mehr nach der Anwesenheitszeit bezahlt werden, dann passiert Ähnliches. Mit anderen Worten: Wir müssen erst lernen, mit den neuen Freiheiten sinnvoll umzugehen. Noch ist es ja so, dass viele Mitarbeiter unter Arbeit ohne Ende und Burnout-Syndromen leiden. Da wäre es nötig, beispielsweise mit gezielter Förderung von Sabbaticals gegenzusteuern, damit die Menschen auch mal zwischendurch zur Besinnung kommen.

(In der nächsten Ausgabe folgt der zweite Teil des Interviews, in dem es unter anderem um die gesellschaftlichen Folgen der New Economy und die Chancen der Gewerkschaften in der Informationsgesellschaft geht.)

Ulrich Klotzist Diplomingenieur und hat an der TU Berlin Informatik studiert. Nach Forschungs- und Entwicklungsarbeiten in Computerindustrie, Werkzeugmaschinenbau und Hochschule ist er seit 1987 beim Vorstand der IG Metall mit den Schwerpunkten Forschungspolitik, Informationsgesellschaft und Zukunft der Arbeit beschäftigt.

* Ina Hönicke ist freie Journalistin in München.