Mit Liebesliedern vom rechten Flügel werden die Weibchen umsungen:

Heuschrecken-Interface für Minicomputer

20.06.1981

Leistungsfähige Minicomputer haben sich in den letzten Jahren innerhalb des Hochschulbereiches nicht nur in der Informatik durchgesetzt. Forschungsinstitute, Gruppen und Fakultäten unterschiedlicher Aufgabenstellungen bevorzugen an Stelle einer großen Anlage einen autonomen Rechner. Auf ihm sind viele Aufgaben vor Ort viel schneller und präziser zu lösen. Höhere Programmiersprachen, Echtzeitverarbeitung und hoher Durchsatz sind weitere Kriterien, die für einen autonomen Einsatz von Minis im Labor sprechen. Typisch für eine solche Lösung ist das Institut für Zoologie II an der Universität Erlangen, Leitung Professor Otto von Helversen.

So selbstverständlich hier der eigene Mini geworden ist, so ungewöhnlich erscheint dem Außenstehenden das rechnergestützte Forschungsprojekt dieses Instituts. Von Helversen beschäftigt sich, unterstützt von seinem Assistenten, dem Diplom-Biologisten Wolfgang Ellegast, mit bestimmten Verhaltensbeobachtungen an Feldheuschrecken.

Heuschrecken-Verhaltungsforschung im weiteren Sinne hat in Deutschland bereits Geschichte und international eine führende Position. Schon vor etwa 25 Jahren begann Professor Franz Huber, Seewiesen, am Max-Planck-lnstitut für Verhaltungsphysiologie - von Konrad Lorenz gegründet - mit ersten Untersuchungen an Heuschrecken und Grillen .

Das Institut für Zoologie II an der Universität Erlangen hat bei seiner Arbeit folgende Zielsetzung: Die Untersuchungen an den Heuschrecken bewegen sich zwischen

Verhaltensforschung und Neurophysiologie. Da die Forschung bei Untersuchungen der Gehirnfunktionen von Wirbeltieren auf große Schwierigkeiten stößt, versuchen die Biologen zu einem Insekt grundlegende Erkenntnisse zu gewinnen. Man hofft, in dem kleinen Heuschrecken-Gehirn bestimmte Grundzüge und Charakteristika zu finden, die auf kompliziertere Lebewesen wie Säugetiere, übertragbar sind. Als Endziel sieht man gar Gehirnvergleichsmuster, die auch auf den Menschen zutreffen können.

Für die Versuche werden Feldheuschrecken ausgewählt, weil sie auf äußere Reize meßbar reagieren. Darüber hinaus sind die Versuche reproduzierbar und ohne Unterbrechung durchzuführen.

Das Erlanger Institut hält stets einen ausreichenden Nachwuchs in Form von wohlgekühlten Heuschrecken-Eiern bereit. Bei der Nahrungsaufnahme sind die Tiere anspruchslos. Ein kleines Grasbüschel aus der eigenen Instituts-Mini-Gärtnerei sorgt auch bei kalter Jahreszeit für das Lieblingsfutter der Grashüpfer.

Die Tiere kommunizieren untereinander durch Gesang. So scheinbar "einfallslos" einem das Gezirpe der Feldheuschrecken auch beim flüchtigen Hinhören klingen mag, so differenziert haben die Erlanger Biologen deren Liebeslieder erkannt und verwendet. Daß es sich um Liebeslieder handelt, daran lassen die Wissenschaftler keinen Zweifel. Die Männchen "singen", indem sie ihre Beine an den Flügeln reiben. Dazu von Helversen: "Sogar jede Art hat ein ganz charakteristisches Geräusch."

Hört ein paarungsbereites Weibchen derartigen Gesang, so antwortet sie mit eigenen Gesangsversen und lockt das Männchen zu sich hin.

Mini steuert "Musikbox"

Im Erlanger Zoologischen Institut wurde für die Versuche folgende Anordnung aufgebaut: Das weibliche Tier befindet sich in einem Drahtkäfig mit ausreichendem Grasbüsche. Dieser Käfig ist in einem großen kühlschrankförmigen Thermostat untergebracht. Innen angebracht ist eine Schalldämmung durch Schaumstoffkugel. Auf den Drahtkäfig gerichtet sind Lautsprecher und Mikrofon. Durch die Frontscheibe des Thermostaten kann das Tier und die gesamte Versuchsanordnung optisch erfaßt sowie die Beleuchtung dimensioniert werden . Die Box ist an einen Minicomputer der Serie Nova von Data General angeschlossen. Zwischen Thermostat und Rechner sorgen DA/AD-Wandler dafür, daß das Weibchen regelmäßig "umsungen" wird. Für dieses "Musikprogramm" entwickelte Dr. Wolfram Zarnack vor vier Jahren ein Interface, das die Beschallung und Reaktionsaufzeichnung erst ermöglicht hat. Auch die Vorschläge für den Versuchsaufbau und die Computerlösung gehen auf seine Arbeit zurück. Dieses von ihm entwickelte DAC-Teil- im Institutsjargon "Heuschrecken-Interface" genannt - übernimmt aus einem Generator die Rauschwerte und liefert daraus Amplituden-moduliertes Rauschen. Als "Musikbox" ist ein Kassettenrecorder-Ein-Ausgabe-Modul direkt an den DG-Mini angeschlossen.

Dieser vermittelt über das Interface unterschiedliche Zeitmuster von Amplitudenfunktionen. Die Ausgabe erfolgt über den DAC-Teil direkt in den Lautsprecher vor dem Käfig der Heuschrecke. Eine Amplitude belegt 10 Bit. Eine Zeiteinheit dauert wenigstens 20 Mikrosekunden - so lange muß die Amplitude aufrechterhalten werden.

Reichhaltiges Gesangs-Repertoire

Durch die Modulation des Rauschens verfügt man über ein sehr reichhaltiges Gesangs-Repertoire. Die Erlanger Biologen gehen bei ihrer "musikalischen" Darbietung so vor, daß sie jeweils einen Parameter variieren und alle anderen konstant lassen.

Untersucht wird danach, wie das Tier auf diesen einen veränderten Parameter reagiert. Dazu von Helversen: "Wir nehmen an, daß das Tier im Zentrum seines Nervensystems ein neuronales Filter besitzt, das nur auf diejenigen Erregungsmuster anspricht, welche dem arteigenen Gesang entsprechen."

Der simulierte Männergesang initiiert bei einer optimalen Kongruenz mit dem Erregungsmuster eine entsprechende Antwort des Weibchens. Es singt dann - Kopulationsbereitschaft vorausgesetzt - eine Rückantwort auf das männliche Liebeslied. Laut Lorenz tut sie das durch ihren angeborenen Auslösemechanismus.

Für die Versuche werden sehr viele Daten gebraucht. Sie liegen einmal in den zahlreichen Kombinationen von Gesangs-Parametern, zum anderen in der Feedback-Auswertung der weiblichen Heuschrecken-Antworten. Maximal alle zwei Minuten gehen die Erlanger "auf Sendung". Jedes "Lied" ist eine Auswahl von bis zu 70 verschiedenen Parameter-Konstellationen.

Sobald eine Parameterkonstruktion abgesendet ist, stellt sich der Minicomputer sofort auf Empfang um. Außer den Reaktionen wird auch die Wartezeit gemessen und festgehalten. Läßt sich das Weibchen mit dem Gegengesang zuviel Zeit, dann betätige sich die Nova als automatischer "Diskjockey" und löst einen weiteren Parameter aus.

Zweit-Mini für Rivalengesänge

Eine weitere Nova ist im Erlanger Institut für ein erweitertes Heuschrecken-Projekt aufgebaut worden. Es hat dieselbe Struktur, jedoch geht es hierbei um die Gesänge eines Rivalen. Aufgabe ist es, das Lautschema des Weibchens zu erforschen.

Das zweite Minicomputer-System wird darüber hinaus für Programmentwicklungs- und Auswertungsaufgaben eingesetzt. Die Programme sind in Fortran geschrieben. Alle

Wandler und lnterfaces sind über eine General Purpose-Platine angeschlossen, die Data General speziell für universelle Digital-/Analog-Sensoren zur Verfügung stellt.

Wie ernsthaft man an Erkenntnissen über neuronale Mechanismen bei Heuschrecken interessiert ist, zeigt nicht nur die enge Zusammenarbeit mehrerer Biologen. So tauscht man regelmäßig Erfahrungen mit Dr. Zarnack aus, der sich mit einem Computer der Serie Eclipse von Data General mit der Flugphysiologie von Insekten am Zoologischen Institut der Universität Göttingen befaßt.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt alle diese Versuche mit nicht unbeträchtlichen Mitteln.