Hersteller machen CCITT-Schnittstelle bisher kaum nutzbar Oeffentliche Verwaltung will APPLI/COM-Einsatz forcieren

24.09.1993

Die von der CCITT 1992 verabschiedete Schnittstelle APPLI/COM hat trotz System- und Diensteneutralitaet bisher keinen Durchbruch erlebt. Deshalb hat die oeffentliche Verwaltung in Deutschland, laut EG-Ratsbeschluss zur Anwendung international offener Normen verpflichtet, eine eigene Initiative zur Durchsetzung der APPLI/COM gestartet, um fuer die Telekommunikationsdienste neue Nutzungsmoeglichkeiten zu erschliessen. Norbert Franssen* skizziert die Hintergruende.

Als im September 1992 die in der Studiengruppe VIII spezifizierte Programmschnittstelle APPLI/COM zur Nutzung der Telematikdienste Telefax (Gruppe 3 und 4), Teletex und Telex von der CCITT als Empfehlung T.611 endgueltig verabschiedet wurde, ist das erwartete Echo ausgeblieben. Dabei haette insbesondere die Telekom allen Grund gehabt, fuer entsprechende Publizitaet zu sorgen, denn das Verdienst, auch divergierende Interessen international zusammenzufuegen und schliesslich in die T.611 einmuenden zu lassen, ist vor allem dem (seinerzeitigen) Fernmeldetechnischen Zentralamt (FTZ) der DBP zuzuschreiben.

Das FTZ hatte das Vorhaben in die Studiengruppe VIII mit einem zuvor veroeffentlichten deutschen Standard (APPLI/COM, Version 1.0) eingebracht und dort bis zur Beschlussreife vorangetrieben. Zudem stand bei der Definition der APPLI/COM der Gedanke Pate, den Telekommunikationsdiensten neue Nutzungsmoeglichkeiten zu eroeffnen und damit die Anschlusszahlen zu erhoehen. Ueber diese Nutzungsmoeglichkeiten sind die Anwender aber auch heute noch nicht ausreichend informiert.

Was leistet nun die in der Empfehlung T.611 beschriebene Schnittstelle APPLI/COM? Sie entkoppelt zunaechst eine lokale Anwendung, die die genannten Telematikdienste nutzen will, von den Besonderheiten eines speziellen Kommunikationsmoduls und ist insoweit system- und diensteneutral. APPLI/COM entlastet die Anwendung von der Steuerung und Handhabung des jeweiligen Telekommunikationsdienstes und von der Umsetzung der zwischen Anwendung und Dienst ausgetauschten Dokumente in das jeweils zulaessige Format. Ueber die APPLI/COM kann eine lokale Anwendung damit Auftraege an einen der genannten Telematikdienste erteilen.

Fuer die erforderliche Verstaendigung bietet die APPLI/COM zunaechst einen Formalismus zur Beschreibung von Auftraegen und Rueckmeldungen sowie definierte Mechanismen fuer ihren Austausch - zum Beispiel durch Einstellung als Datei in ein Auftragsverzeichnis zur Abholung durch das Kommunikationsmodul. Nach der Abarbeitung eines Auftrages erfolgt gegebenenfalls eine Rueckgabe der Auftragsbeschreibung in ein Antwortverzeichnis, nachdem das Kommunikationsmodul zuvor seine Antworten in die dafuer vorgesehenen und gegebenenfalls mit Default-Werten vorbesetzten Felder eingestellt hat. Die Initiative liegt stets bei der lokalen Anwendung. Diese steht daher mit dem Kommunikationsmodul ueber die APPLI/COM in einer Client-Server-Beziehung (vgl. Abbildung 1).

Konkrete APPLI/COM-Auftraege bestehen aus Schluesselwort/Parameter- Paaren, die die gewuenschte Dienstleistung spezifizieren. Ein Beispiel dafuer gibt Abbildung 2.

Mit dem dort dargestellten Sendeauftrag soll ein Grafikdokument, das im TIFF-Format vorliegt, als G3-Fax uebermittelt und sein Empfang bestaetigt werden. Die vom Kommunikations-Server gesetzten Angaben zu den Schluesselworten "Status" und "Error" verweisen auf die erfolgreiche Abwicklung des Auftrags.

Die APPLI/COM nach T.611 bietet Funktionen zum

- Senden mit und ohne Empfangsbestaetigung,

- Empfangen,

- Kontrollieren und Bearbeiten von Auftraegen (Trace),

- Drucken, Konvertieren, Pruefen von Formaten,

- Erweitern der Schnittstelle fuer genormte oder privat definierte Zusaetze.

Fuer die Implementierung gibt es zwei Funktionsklassen. Zwingend realisiert sein muessen die Sende- und Empfangsfunktionen (Funktionsklasse A). Bei Funktionsklasse B kommt zusaetzlich die Trace-Funktionalitaet hinzu. Alle uebrigen Funktionen sind additiv und keiner Klasse zugeordnet. Das europaeische Institut fuer Telekommunikationsstandards ETSI hat mittlerweile die Testvorschriften festgelegt, nach denen lokale Anwendungen und Kommunikationsmodule auf Konformitaet zur T.611 zu pruefen sind. Die entsprechende Norm befindet sich derzeit in der Zustimmungsphase.

Ueber die APPL/COM werden die im Text- oder Grafikformat angelieferten Dokumente nicht nur in die dienstespezifischen Endgeraeteformate umgesetzt, Dateien lassen sich vielmehr auch transparent uebermitteln. Damit ist die Moeglichkeit fuer einen Filetransfer mit den Telematikdiensten im ISDN eroeffnet. Auf der Empfangsseite bleibt dabei erkennbar, ob die transparent uebergebene Datei eine Edifact-Nachricht beinhaltet oder dem aus FTAM abgeleiteten Binaer-Dateiformat BFT (standardisiert in der Empfehlung T.434) entspricht.

Interface integriert auch ISDN-Telematikdienste

Nach alledem haette man meinen sollen, dass die APPLI/COM bei den Herstellern von Kommunikationssoftware und den Entwicklern kommunikationsgebundener Anwendungen auf ein grosses Echo gestossen waere, gewaehrleistet sie doch die Integration ISDN-basierter Telematikdienste fuer den Dokumenten- und Datenaustausch in lokale Anwendungen auf einfachste Weise und verbessert durch ihre System- und Diensteneutralitaet deren Portabilitaet.

Dass die erwartete Resonanz bislang ausgeblieben ist, hat vermutlich eine ganze Reihe von Ursachen. Die wichtigste ist wohl, dass nicht die Schnittstelle selbst vermarktet wird, sondern in der Regel komplette Anwendungssysteme, die ueber eine entsprechende Oberflaeche die interaktive Nutzung von Telematikdiensten offerieren.

Die Tatsache, dass einem derartigen Verfahren die APPLI/ COM- Schnittstelle zugrundeliegt, ist noch nicht als werbewirksam erkannt worden, nicht einmal von der Telekom selbst, die mit Teledat ein Produkt dieser Kategorie im eigenen Vertriebsspektrum hat. Die Kaeufer wissen daher oft nicht einmal, dass sie mit derartigen Systemen auch eine offene Schnittstelle erworben haben, die sie mit eigenen Anwendungen ebenfalls nutzen koennen.

Hersteller bezweifeln die X.400-Leistungsfaehigkeit

Ein zweiter Grund ist darin zu sehen, dass Hersteller, die selbst Kommunikationsschnittstellen - etwa fuer ihre Mailsysteme - anbieten, die APPLI/COM zum Uebergang auf die Telematikdienste zwar verwenden, ihre Nutzung dem Anwender aber nicht eroeffnen. Der Schnittstelle selbst wird in diesem Zusammenhang vorgehalten, dass sie zwar die Funktionalitaet der Telematikdienste abbilde, nicht aber auf den Leistungsumfang von elektronischen Mitteilungsdiensten nach X.400 ausgelegt sei.

Diese Kritik scheint insbesondere dort gewichtig, wo eine Versorgung von Anwendungen mit Kommunikations-Dienstleistungen auch ueber X.400-Mailsysteme mit einer einheitlichen Programmschnittstelle angestrebt wird.

EG-Ratsbeschluss fordert normkonforme Anwendung

Schliesslich ist auch die Vorstellung, dass Kommunikationsdienstleistungen ohne Benutzerinteraktion unmittelbar von Anwendungen genutzt werden koennen, zwar im EDI- Umfeld gaengig, keineswegs aber selbstverstaendlich fuer die Organisation allgemeiner Buerokommunikation. Da passt es dann ins Bild, dass in der Fachpresse das Fehlen von "ISDN-Software" zwar immer wieder lautstark beklagt, von der APPLI/COM aber kaum Notiz genommen worden ist.

Die oeffentliche Verwaltung, die durch EG-Ratsbeschluss ohnehin gehalten ist, internationale Normen fuer den Informationsaustausch zwischen Systemen anzuwenden und die traditionell auf die Portabilitaet von DV-Anwendungen achtet, hat unlaengst in diesem Zusammenhang eindeutig Stellung bezogen und damit gleichzeitig signalisiert, dass in ihrem Umfeld normkonforme APPLI/COM- Implementierungen auf besondere Nachfrage stossen werden.

Fuer den Nachrichtenaustausch zwischen staatlichen Behoerden untereinander und zwischen staatlichen und kommunalen Dienststellen besteht bei der staendig steigenden Zahl von automatisierten Verfahren grosser Bedarf; die Leistungsfaehigkeit etwa der Umweltverwaltung haengt von einer zufriedenstellenden Loesung dieses Problems unmittelbar ab. Die oeffentliche Verwaltung muss sich daher betroffen fuehlen, wenn sich ueber eine genormte Programmschnittstelle Anwendungen auf einfache Weise kommunikationsfaehig machen und an unterschiedliche Transportwege anpassen lassen.

Bei dieser Interessenlage liegt die Vorstellung nahe, die APPLI/ COM so zu erweitern, dass sie die Rolle einer einheitlichen, das heisst fuer alle Kommunikationsdienste nutzbaren Programmschnittstelle uebernehmen und als offene Schnittstelle proprietaere Loesungen ersetzen kann.

Die Verfolgung dieser Strategie laesst sich auch unmittelbar aus den Ergebnissen eines Pilotprojektes ableiten, das im Auftrag des Bayerischen Staatsministeriums des Innern zur elektronischen Uebermittlung von Dokumenten zwischen Landtag und Staatsministerien mittels der APPLI/COM durchgefuehrt wurde.

Das Bayerische Staatsministerium des Innern hat daher auf Anregung des Arbeitskreises "Datenaustausch" des KoopA ADV (siehe unten) der Telekom vorgeschlagen, die APPLI/COM so zu erweitern, dass sie auch den Zugang zu elektronischen Mitteilungsdiensten nach X.400 umfasst.

Anwender beteiligen sich aktiv an der Normierung

Dazu wurde ein konkreter Entwurf vorgelegt, der auf einer Studie der Firma Danet GmbH basierte, und auch von dem nationalen Arbeitskreis "APPLI/ COM" der Telekom einstimmig verabschiedet und anschliessend in den internationalen Standardisierungsprozess eingebracht wurde.

Bei dieser Sachlage hat der Kooperationsausschuss ADV-Bund/ Laender/kommunaler Bereich (KoopA ADV), in dem sich die oeffentliche Verwaltung in Grundsatzfragen des Einsatzes von Informationstechnik koordiniert, im Maerz 1993 in Duesseldorf folgenden Beschluss gefasst:

1. Der KoopA ADV begruesst die Initiative der DBP-Telekom, die Telematik-Schnittstelle APPLI/ COM zur Nutzung von X.400- Mitteilungsdiensten zu erweitern und diese Erweiterung international im Rahmen der CCITT-Empfehlung T.611 zu standardisieren.

2. Der KoopA ADV misst der Implementation der APPLI/COM-Version 2.0 (Telex, Telefax, Teletex) grosse Bedeutung zu.

3. Der KoopA ADV bittet Bayern, die Interessen der oeffentlichen Verwaltung an dieser Schnittstelle in dem von der DBP-Telekom einberufenen nationalen Arbeitskreis 'APPLI/ COM' zu vertreten."

Dieser Beschluss manifestiert einen der seltenen Faelle, in denen sich die Anwender selbst aus eigenem Interesse an Normungsprozessen fuer offene Kommunikation beteiligen.

Die Arbeiten zur Erweiterung der APPLI/COM werden jetzt in der Nachfolgeorganisation der CCITT, dem TSS (Telecommunication Standardisation Sector) betrieben.

Mit der Neuorganisation wurde die Moeglichkeit geschaffen, Empfehlungen im Einjahresabstand herauszugeben. Mit einer erweiterten Empfehlung die sich dann auch auf den Zugang zu X.400- Diensten erstreckt und sich dabei an den europaeischen Funktionsprofilen fuer Message Handling orientiert, ist daher bereits Anfang naechsten Jahres zu rechnen.

Die Anpassung der APPLI/ COM an den sich abzeichnenden europaeischen Filetransferstandard ist im Gespraech. Damit zeichnet sich eine vielversprechende Entwicklung ab, die Anwender schon immer wollten. Sie muss nun von den Herstellern eingeloest werden.

Abbildung 1: APPLI/COM-Schnittstelle in Client-Server-Beziehung

Abbildung 2: APPLI/COM-Sendeauftrag

*Dr. Norbert Franssen ist im Bayerischen Staatsministerium des Inneren fuer Grundsatzfragen und ressortuebergreifende Angelegenheiten der Informationstechnik zustaendig.