Agile Remote Work

Herausforderung Kommunikationskultur

08.05.2020
Von 
Gabi Visintin ist freie Journalistin in Filderstadt.
Statt sich vor realen Taskboards zu treffen, jonglieren agile Projektmitarbeiter mit Kommunikations-Tools. Einen wunden Punkt bildet allerdings die virtuelle Kommunikation, wie das Beispiel des IT-Dienstleisters BTC zeigt.

Die agilen Teams beim IT-Dienstleister BTC in Oldenburg traf das Coronavirus beziehungsweise seine Folgen wie aus dem Nichts. Das Virus verbannte die "agilen Mitarbeiter" in die heimische Quarantäne. Da die Kommunikation bei der agilen Arbeitsweise eigentlich konträr zu Online-Dialogen steht, stellte der Schwenk auf die virtuelle Kommunikation im agilen Projekt einen Kraftakt dar.

Remote Work stellt agile Teams vor neue Herausforderungen. Insbesondere die Etablierung einer offenen Kommunikationskultur ist kein leichtes Unterfangen.
Remote Work stellt agile Teams vor neue Herausforderungen. Insbesondere die Etablierung einer offenen Kommunikationskultur ist kein leichtes Unterfangen.
Foto: Andrey Popov - shutterstock.com

Es ist vergleichbar mit der Vorstellung, dass ein intelligenter Schwarm im Meer plötzlich im Trockenen agieren muss. "Agiles Arbeiten lebt von der Präsenzkultur und vom persönlichen Austausch der Projektteilnehmer", bringt es Simon Orth, agiler Coach bei BTC, auf den Punkt. BTC betreut aktuell über 20 agile Teams in Kundenprojekten. Das bedeutet, die Coaches innerhalb der agilen Projekte koordinieren und strukturieren Termine, führen Workshops und Schulungen durch, unterstützen die Teams dabei, selbständig zu arbeiten, moderieren Konfliktgespräche, halten den direkten Kontakt zum Kunden und vieles mehr.

Agile Remote Work über Nacht

Und dann, "von heute auf morgen", wie es Orths Kollege Florian Peters ausdrückt, drehte sich alles um. Am Freitag, den 13. März, hatte der Auftraggeber mitgeteilt, dass ab Montag alle aus dem Homeoffice arbeiten sollten.

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Für die agilen Coaches stand über Nacht die Frage im Raum: "Wie können wir das, was wir bisher vor Ort veranstalteten - Themen diskutieren, Zeiten und Budgets abschätzen, Feedbacks geben, einzelne Arbeitsschritte definieren, Retrospektiven durchführen oder bisher unentdeckte Probleme und Stimmungen aufspüren - remote darstellen?", beschreibt Julian Cramer die Situation. Bezogen auf die technische Praxis lautete die erste Frage: Welche Tools brauchen Entwickler, Product Owner und Coaches für die zukünftige agile Arbeit aus dem Homeoffice heraus?

Florian Peters, BTC: "Von heute auf morgen drehte sich alles um und alle mussten aus dem Homeoffice arbeiten."
Florian Peters, BTC: "Von heute auf morgen drehte sich alles um und alle mussten aus dem Homeoffice arbeiten."
Foto: BTC

Die Herausforderung war groß. Aber auch das Engagement, die Kreativität und der Pragmatismus der agilen Coaches des IT-Dienstleisters. Und die drei hatten auch noch Glück: Erst im Jahr zuvor hatte der Auftraggeber, für den die Coaches um Simon Orth arbeiten, das Kollaborations-Tool Slack eingeführt, doch bisher hatte das Werkzeug kaum jemand benutzt. Für die ersten Sitzungen der Coaches kam das Tool gerade recht. Um die Methode eines agilen Projekts abbilden zu können, bedarf es jedoch noch einer Reihe weiterer Werkzeuge. Gemeinsam mit der IT des Kunden wurden die Digitalisierer der BTC schnell fündig. Im großen Werkzeugkasten der IT-Community fanden sie zum Beispiel das digitale Kanban-Board in Jira, Aufgaben-Management im MS Planner und verschiedene Retro-Tools. Und es klappt: Knapp drei Wochen nach dem Ad-hoc-Sprung in die digitale Agilitätskommunikation organisierten Simon Orth und seine zwei Kollegen vor kurzem ein Webinar, in dem sie ihre "Learnings" der Allgemeinheit zur Verfügung stellten.

Dabei sind ihre technischen Tipps am einfachsten zu befolgen: Statt über das Smartphone zu kommunizieren, empfehlen sie besser über das Festnetz und am Laptop zu arbeiten. Oder: LAN statt WLAN, um die Stabilität zu verbessern. Oder: Headset statt PC-Mikrofon. Aus der Organisationslehre ebenfalls gut bekannt (aber nicht immer befolgt) sind Tipps, wie eine Sitzung gelingt. Dazu gehören "gute Vorbereitung durch jeden Einzelnen, Moderation des virtuellen Meetings mit klarer Agenda und Zielfestlegung und sichere Rollenverteilung", listet Orth auf.

Agile Herausforderungen im Homeoffice

Doch für die virtuelle Kommunikation im agilen Projekt reichen die bisher aufgeführten Tools und Tipps nicht aus. Wie kann verhindert werden, dass Diskussionen auf Distanz zu Missverständnissen, Verletzungen oder Verstimmungen führen? Die Erfahrungen in der Social-Media-Kommunikation zeigen schließlich oft schmerzhaft, dass die relative Anonymität im Virtuellen auch weniger angenehme Seiten hat. Natürlich ist die Konstellation in einem agilen Arbeitsteam damit nicht vergleichbar, trotzdem ist es sinnvoll, sich diese Thematik bewusst zu machen.

Simon Orth empfiehlt deshalb, Höflichkeitsregeln zu erarbeiten - er nennt es Netiquette - und sich nicht nur Disziplin zu verordnen, sondern auch Pausen. Die BTC-Coaches haben deshalb inzwischen sogar eine virtuelle Küche eingerichtet. "Wir wissen ja, dass informelle Treffen bei einer Tasse Tee oder Kaffee - die sich jetzt aber jeder selbst daheim brühen muss - ein wichtiger Baustein im Rahmen der Kommunikationskultur sind", bekräftigt Florian Peters.

Simon Orth, BTC: "Wenn es um eine offene und wertschätzende Kommunikationskultur geht, ist das virtuelle Arbeiten sehr herausfordernd."
Simon Orth, BTC: "Wenn es um eine offene und wertschätzende Kommunikationskultur geht, ist das virtuelle Arbeiten sehr herausfordernd."
Foto: BTC

Einen wunden Punkt bildet die virtuelle Kommunikation in agilen Projekten, mit der die Coaches besonders zu kämpfen haben. Florian Peters verdeutlicht: "Wir agieren unter anderem als aufmerksame Beobachter bei Scrum-Meetings und merken recht schnell an Verhaltensweisen oder Mimik, ob sich ein Projektmitglied mit einem Thema zurückhält, obwohl es ihm unter den Nägeln brennt." Das ist am Bildschirm viel weniger oder gar nicht zu erkennen. Erschwerend kommt hinzu, dass es auch nicht so einfach ist, nach dem Meeting nachzuhaken. "Ein Vier-Augen-Chat hat höhere Hürden und bei der Fülle der virtuellen Meetings der Projektteilnehmer, ist es schon eine Kunst, überhaupt einen extra Termin zu finden", beschreibt der Coach die Situation der heutigen Praxis. "Wir leben aber vom Feedback", betont Simon Orth.

Welche Bedeutung es hat, sich bei einem Meeting Face-to-Face zu sehen und wahrzunehmen, erfährt derzeit auch Julian Cramer. "Ich stehe gerade vor der Herausforderung ein Projekt-Kickoff zu organisieren, bei dem sich die Mitglieder bisher höchstens vom Sehen kennen." Um offen miteinander umzugehen, gehört auch eine Portion Vertrauen dazu, das aber am Bildschirm nicht so schnell entsteht wie im realen Leben.

Julian Cramer, BTC: "Ich stehe gerade vor der Herausforderung ein Projekt-Kickoff zu organisieren, bei dem sich die Mitglieder bisher höchstens vom Sehen kennen."
Julian Cramer, BTC: "Ich stehe gerade vor der Herausforderung ein Projekt-Kickoff zu organisieren, bei dem sich die Mitglieder bisher höchstens vom Sehen kennen."
Foto: BTC

Summa summarum fasst Simon Orth die Vor- und Nachteile zusammen: "Die virtuellen Meetings verlaufen sehr fokussiert und das wirkt sich auf die fachliche Seite sehr positiv aus. Doch wenn es um eine offene und wertschätzende Kommunikationskultur geht, wird es herausfordernd." Simon Orth, der insgesamt sehr zufrieden ist, wie heute in den agilen Projekten bei BTC virtuell kommuniziert wird, freut sich deshalb darauf, wenn alle irgendwann wieder im direkten Austausch arbeiten können. Insgesamt betrachtet ist für Simon Orth die digitale Kommunikation in agilen Projekten eine Gratwanderung: "Das Zwischenmenschliche bleibt eher auf der Strecke - aber miteinander vertraute agile Teams kommen auch mit Ausnahmesituationen gut klar." (mp/hk)

Remote Agile Tools

Diese Tools bringt BTC für das agile Arbeiten im Remote-Modus zum Einsatz:

  • Videokonferenz-Tool

  • Messenger (Slack, Microsoft Teams)

  • Digitales Whiteboard für Collaboration (zum Beispiel Microsoft Whiteboard)

  • Aufgabenmanagement mit Microsoft Planner

  • Schätzungen im Refinement via PlanITpoker

  • Schätzungen im Refinement via Slack und Microsoft Teams

  • Slack-App "Retrospective Dashboard" oder Retrospektive per MS-Teams-Kanal

  • Retro Tools (Mural, Reetro, Teamretro)

  • Dokumentenablage definieren und festlegen (zum Beispiel SharePoint)

  • Digitales Scrum-/ Task-Board (zum Beispiel JIRA, MS Planner)