Nach der ersten Euphorie wächst bei amerikanischen Telecommutern der Widerstand

Heimarbeit: Ein radikaler Umbruch bahnt sich an

23.03.1984

ESCHBORN (VWD) - Die rasche Verbreitung neuer Technologien wird mittelfristig die gesamte Arbeitswelt grundlegend verändern. Das Stichwort heißt elektronische Heimarbeit. Ein großer Teil der Beschäftigten wird sich mit ihr abfinden müssen. Heute noch gehört Heimarbeit zu den am schlechtesten bezahlten Tätigkeiten und rangiert am Ende der sozialen Rangskala. Doch ihre Aufwertung beginnt sich abzuzeichnen. Entdynamisiert wird der Begriff Heimarbeit durch den sachlichen Begriff des dezentralen Arbeitsplatzes. Er gibt exakt das wieder, was in den kommenden Jahren die Bürolandschaft entscheidend verwandeln wird.

Über die wahrscheinliche Größenordnung dessen, was nicht nur auf die Büros mittelfristig zukommt, liegen aus den USA Schätzungen vor. Die amerikanische "National Science Foundation" erwartet, daß bis zum Jahr 2000 rund 40 Prozent aller US-Bürger in erwerbsfähigem Alter elektronische Heimarbeiter sein werden. Bei Electronic Services Unlimited schätzt man, daß binnen zehn Jahren 18 Prozent aller arbeitenden US-Bürger "Telecommuter" sein werden und meint, in zehn bis 20 Jahren werde der überwiegende Teil der US-Bürger auf allen Ebenen der Wirtschaft elektronische Heimarbeiter sein. Man schätzt daß sich diese Tätigkeit auf mindestens zwei bis drei Tage beschränken wird. Unterstützt wurde diese Untersuchung von Branchenriesen, wie Digital Equipment, AT&T, New York Telephone, aber auch von der Citibank, dem US-Großfilialisten J.C. Penney und dem US-Versicherungskonzern Equitable Life.

Dezentrale Arbeitsplätze sind in den USA bereits installiert. Erste Erfahrungen sind gesammelt. So hat Continental Illinois Bank ihren 1978 gestarteten Versuch, bestimmte Büroarbeiten nicht mehr in der Bank, sondern von ihren Angestellten in Heimarbeit durchführen zu lassen inzwischen wieder aufgegeben. Für die Manager der Chicagoer Bank war für diesen Entschluß jedoch nicht das Konzept des dezentralen Arbeitsplatzes ursächlich, vielmehr waren es technische Schwierigkeiten, die bei der Übermittlung von Texten aufgetreten waren. Am Konzept will man bei Continental Illinois weiter festhalten.

Business Weck berichtet in einem Beitrag, der die rush-hour für die Telecommuter, die elektronischen-Heimarbeiter, gekommen sieht, über bedeutende Produktivitätszunahmen bei den elektronischen Heimarbeitern. Die Zeitschrift zitiert einen Experten, der Produktivitätszuwachsraten im Bereich von 40 bis 50 Prozent für nicht unrealistisch hält, verglichen mit der Leistung der im Büro mit gleicher Tätigkeit befaßten Angestellten.

Derzeit sind nur etwa 200 Unternehmen in den USA aktiv mit der Vergabe von elektronischer Heimarbeit befaßt. Dennoch kommt in den USA mit dezentralen Arbeitsplätzen gesammelten Erfahrungen hohe Bedeutung in mehrfacher Hinsicht zu: Produktivitätssteigerungen im dargestellten Ausmaß zwingen wettbewerbsorientierte Volkswirtschaften zum Mitziehen, ein Ausklingen aus der technischen Evolution ist aufgrund der ihr innewohnenden Eigendynamik nicht möglich. Die US-Erfahrungen haben aber auch die Schwachstellen des dezentralen Arbeitsplatzes aufgezeigt, was mit erklären mag, weshalb sich der Zug in Richtung elektronische Heimarbeit in den USA bislang nur so zögernd in Bewegung gesetzt hat.

Die elektronische Heimarbeit vergebenden US-Unternehmen berichten übereinstimmend, daß nach anfänglicher Euphorie bei den Telecommutern Widerstand gegen diese Art der Arbeit zunimmt. Dieser Widerstand entstehe aus dem Isoliert-Sein am dezentralen Arbeitsplatz. Die gewohnten Kontakte mit Kollegen und Vorgesetzten bestehen in ihrer unmittelbaren Form, wie bisher im Büro, nicht mehr. Das "Schwätzchen auf dem Gang" findet nicht mehr statt. Damit entfällt der direkte Zugriff zu informellen Informationen. Statt dessen sieht sich der elektronische Heimarbeiter ausgesperrt und findet sich in einem Vakuum wieder, für daß er sich zudem noch selbst entschieden hat. Noch konkreter, der Telecommuter befürchtet, bei Höhergruppierungen vom Management einfach deshalb übergangen zu werden, weil er sich nicht mehr in dessen Blickfeld befindet. Elektronische Heimarbeiter monieren zudem, daß ihnen auch die ganze Büroatmosphäre nun fehle.

Inzwischen sinnt man bei den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft und beim DGB über Möglichkeiten nach, wie die Isolation des Arbeiters am dezentralen Arbeitsplatz zu begegnen ist. Der DGB hat auf der "Telecom '83", sich auf generelle Forderungen beschränkt. Antworten auf die Problematik erhofft man nun von einem in Vorbereitung befindlichen Modellversuch. Er findet mit dem Arbeitstitel "Schaffung dezentraler Arbeitsplätze in Baden-Württemberg unter Einsatz von "Teletex" statt und wird nach Darstellung des federführenden badenwürttembergischen Wirtschaftsministeriums vermutlich noch im laufenden Quartal beginnen und sich über zwei Jahre erstrecken.

Wissenschaftlich unterstützt wird dieser Modellversuch vom Fraunhofer Insitut für Arbeitswirtschaft und Organisation Stuttgart. Vorerst bedarf es allerdings noch der Klärung einer Reihe arbeitsrechtlicher Fragen, die im Zusammenhang mit dem Angebot dezentraler Arbeitsplätze entstehen und in denen bedeutende Problematik liegt.

Exakt hier sieht man denn auch beim DGB die Problematik. Die Entwicklung muß, und das ist Forderung der Gewerkschaften, sozial beherrschbar bleiben, die rechtlichen Besitzbestände künftiger Heimarbeiter müssen gewahrt werden.

Unterdessen sagt das Deutsche Institut für Urbanistik, Berlin, in einer Studie über die räumlichen Auswirkungen der künftigen Informationstechnologie (und damit der dezentralen Arbeitsplätze) voraus, daß sich ein verstärkter Trend zur Ausweitung der bereits bestehenden Ballungsräume durch Verschiebung von Einwohnern und Betrieben in die Randgebiete dieser Verdichtungsräume etablieren wird. Damit würden traditionelle Standortbindungen in vielen Branchen an Bedeutung verlieren, die Standortwahlfreiheit der vorrangig durch Bürotätigkeit charakterisierten Unternehmen zunehmen und die Konkurrenz der Kommunen untereinander um die gewerblichen Steuerzahler an Schärfe gewinnen.