Jahresrückblick

Hartnäckige Vorbehalte gegenüber dem Internet

23.12.1998
Sieht man einmal von den Pflichtübungen der Euro- und Jahr- 2000-Umstellung ab, gibt es derzeit wohl kein Thema, das solches Interesse erfährt wie der elektronische Handel. Dabei schlagen die emotionalen Wogen hoch. "Revolutionen" wie das Digitalgeld fallen allerdings mangels Akzeptanz vorerst aus. Realistische Argumente gewinnen langsam die Oberhand, wie Winfried Gertz* beobachtet hat.

"Electronic Commerce macht für uns keinen Sinn", urteilt Michael Brych. Der kaufmännische Leiter der Filialkette "Der Beck", die sich in wenigen Jahren zum unbestrittenen Marktführer der Bäckereien im Nürnberger Raum entwickelt hat, sieht eine eklatante Lücke zwischen Kosten und Nutzen des Internet-Auftritts. "Neun von zehn Web-Sites sind doch überflüssig."

Der aufstrebende Mittelständler, der zuletzt mit rund 700 Mitarbeitern etwa 57 Millionen Mark Umsatz erwirtschaftet hat, ist ein gutes Beispiel für die Internet-Zauderer zwischen Kiel und Passau. Um den Unternehmen die Potentiale des Netzes schmackhaft zu machen, will das Bundeswirtschaftsministerium nun bundesweit 24 Kompetenzzentren für E-Commerce einrichten. Nach Ansicht des Nürnberger IHK-Hauptgeschäftsführers, Dieter Risterer, ist es auch höchste Eisenbahn: Trotz des von der OECD für das Jahr 2000 prognostizierten Internet-Handelsvolumens von 600 Milliarden Dollar trauen kleine und mittlere Unternehmen (KMU) dem E-Commerce immer noch nicht über den Weg. Nach Angaben der Europäischen Kommission verfügten erst 20 Prozent von ihnen über einen entsprechenden Anschluß, nur fünf Prozent hätten eine eigene Homepage.

Allein in Oberfranken sind erst etwa 6000 von insgesamt 42 000 IHK-Mitgliedsunternehmen im Internet vertreten. Dabei ist der E-Commerce laut Riesterer ein geeignetes Instrument, dem Flächenproblem Oberfrankens ohne eindeutiges Zentrum zu begegnen. Zudem bietet der elektronische Geschäftsverkehr eine internationale Präsentationsplattform, von der sich die IHK eine Steigerung der traditionell schwachen regionalen Exportquote verspricht.

Freilich gibt es auch zahlreiche Beispiele, wie sich Mittelständler geschickt an die neuen Herausforderungen herantasten: Elektronikdistributoren reduzieren ihre Kosten fürs Auftragswesen um zwei Drittel, weil Fachhändler übers Internet und nicht mehr telefonisch bestellen. Hersteller von Maschinenteilen sparen Kosten für Druck und Versand, weil ihre Kunden Konstruktionszeichnungen aus dem Extranet herunterladen. Heizungsanbieter binden Kleinbetriebe und Klempner in ihr Intranet ein, wo diese Ersatzteile bestellen und technische Gebrauchsanweisungen abrufen können. Großkonzerne wie die Lufthansa, die ihre Position in wettbewerbsintensiven Märkten bei fallenden Preisen behaupten müssen, senken die Kosten für Verkauf und Vertrieb durch massiven Einsatz von Internet, Call-Centern und elektronischem Ticketing.

Shopping per Mausklick in weiter Ferne?

Andere wie die British-Airways-Tochter Go vertrauten von vornherein auf dieses Geschäftsmodell. Satte Millionenbeträge will auch der Autobauer Ford sparen. Waren und Services, die nichts mit der Produktion zu tun haben, sollen online bestellt, Reise- und Spesenabrechnungen im Intranet abgewickelt werden.

Noch zu Beginn des Jahres traten die Auguren auf die Euphoriebremse. Auf den Multimedia-Tagen 98 in Frankfurt erklärte Prognos-Projektleiter Holger Delpho, im europäischen Großhandel dürfte sich der Umsatz in Grenzen halten, sogar im IT-Markt werde der Electronic Commerce zur Jahrtausendwende kaum 7,2 Milliarden Ecu überschreiten und damit knapp 3,7 Prozent des Branchenumsatzes ausmachen. Auch für den Verbraucher schien ein Wechsel von der Ladentheke zum virtuellen Shopping per Mausklick in weiter Ferne. Für 1998 erwartete Delpho "einen Anteil am gesamten Einzelhandel von gerade einmal 0,075 Prozent und bis zum Jahr 2000 nicht mehr als 0,34 Prozent - das sind 14 Ecu Umsatz pro Westeuropäer".

Bevor sich E-Commerce in allen seinen Facetten entfalten kann, müssen dicke Brocken aus dem Weg geräumt werden. Das gilt heute wie vor zwölf Monaten. Zwar sind die technischen Voraussetzungen weitgehend vorhanden, um dem Web-Handel zum Durchbruch zu verhelfen. Doch mangelnde Sicherheit, unzureichende staatliche Rahmenbedingungen und insbesondere Skepsis und Desinteresse der Verbraucher halten unverändert hohe Hürden aufrecht. Solange man weder sein Geld noch seine persönlichen Daten den virtuellen und damit wenig vertraueneinflößenden Marktplätzen zur Verfügung stellt, kommt der vielbeschworene E-Commerce aus den Kinderschuhen nicht heraus. Einer neueren Untersuchung der Universität Freiburg zufolge wollen 67 Prozent der Befragten Internet- und E-Commerce-Angebote aus Angst vor Datenmißbrauch nicht nutzen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt die Internet-Shopping-Studie 98/99 des Online-Magazins "First Surf": Die Verbraucher trauen dem Bezahlungsvorgang nicht, haben Angst vor Schnüffelei und verlieren im Datenchaos die Orientierung.

Davon lassen sich die Online-Freaks nicht beirren. Unermüdlich stromern sie teils nächtelang durch den virtuellen Kosmos. Laut Medienforscher Norbert Bolz von der Universität Essen bilden sich "Communities of Choice", in denen der Kommunikationsakt im Zentrum steht. Nicht die Inhalte geben den Ton an, sondern Spaß und Lust am Surfen. Der technisch implizierte Copy-Befehl definiere die neue Hacker-Mentalität.

Die beispiellose Springflut des Internet drückt sich in nüchternen Zahlen aus. Nach Schätzungen von Clemens Baack vom Berliner Heinrich-Hertz-Institut sollen Ende 1999 weltweit 170 Millionen Menschen auf das Internet zugreifen können. Während eine Übertragungskapazität von 1 Mbit pro Sekunde im Jahr 2000 selbstverständlich sein dürfte, sollen zehn Jahre später bereits mehrere Terabit pro Sekunde durchs Netz schießen. "Das Internet von morgen wird langsamen Bildaufbau und Zeitverzögerung bei Videokonferenzen vergessen machen", ist der Wissenschaftler überzeugt. Im Unterschied zur steigenden Verbreitung der weltweiten Telefonie um rund fünf Prozent pro Jahr soll der Multimedia- und Datenverkehr zwischen 30 und 50 Prozent wachsen. "Voice is free", erklärt Cisco-Chef John Chambers. Dickes Geld macht man schon im Jahr 1998 nur noch im Datenverkehr.

Zu ähnlichen Prognosen sieht sich die Europäische Kommission veranlaßt. Wie Direktor Jörg Wenzel Ende November auf einem Kongreß des Münchner Kreises mitteilte, wurden 1997 mehr Computer als Autos verkauft und mehr Geld für Informationstechnik und Telekommunikation als für Flugzeuge ausgegeben. Ferner werde der normale Postverkehr zunehmend durch E-Mail ersetzt. Die wirtschaftlichen Daten könnten nicht zuversichtlicher stimmen: Bereits 1998 sollen IT und TK mit 850 Milliarden Ecu mit rund 15 Prozent zum europäischen Bruttosozialprodukt beitragen und binnen fünf Jahren zirka 1,5 Millionen neue Arbeitsplätze - davon allein 250000 in Call-Centern - schaffen. Die Umsätze im E-Commerce werden sich laut Wenzel von derzeit 126 Milliarden Ecu auf rund eine Billion im Jahr 2003 steigern.

Als internationaler Maßstab dient den Auguren die USA. Während jeder vierte Haushalt bereits ans Web angeschlossen ist, führen die Amerikaner die Ranglisten auch bei der Verbreitung von PCs und Handies an. Dies will man nicht länger hinnehmen. "80 Prozent des weltweiten E-Commerce-Umsatzes spielt sich in den USA ab", ärgert sich Wenzel, "während wir hierzulande unendliche Debatten über die Folgenabschätzung führen und mit Postkutschen auf der Datenautobahn herumzuckeln." Positive Ansätze wie das Gesetz zur digitalen Signatur oder die Arbeit der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post (RTP) würden durch politische Eigentore zerstört. Hoffnungsträger der Wirtschaft wie der als Minister vorgesehene Compunet-Gründer Jost Stollmann tauschte man durch abgehalfterte Manager der Energieindustrie aus. Anstatt Deregulierung und Wettbewerb zu unterstützen, rede man nun wohl den Interessen der Deutschen Telekom, ihrer Mitarbeiter und Aktionäre das Wort. Nicht ein einziges Mal habe Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung die Begriffe Internet oder E-Commerce in den Mund genommen.

Wasser auf die Mühlen der mit der aktuellen politischen Entwicklung hadernden Wirtschaftskreise waren die Worte von Ira Magaziner. Wie der Internet-Beauftragte der Clinton-Regierung mitteilte, schafft das Internet bereits ökonomische Fakten. Während täglich rund 10000 Web-Sites eröffnet würden, erzielten Firmen wie Intel online Milliardenumsätze; bei Cisco betrage der E-Commerce-Anteil am Gesamtumsatz gar 67 Prozent. Magaziner geht davon aus, daß sich die Umsatzentwicklung im Business-to-Business von sechs Milliarden Dollar 1997 auf 200 Milliarden Dollar in 2002 steigern wird. Verbraucher, so seine optimistische Prognose, sollen bereits 1999 ein Fünftel ihrer Bücher und rund 70 Prozent ihrer Flugtickets per Internet kaufen.

Wären da nicht die Vorbehalte der Unternehmen und Verbraucher, die Zahlen könnten noch beeindruckender sein. Zwar hat man auch in den USA alle Hände voll zu tun, um das Internet-Schiff auf Kurs zu halten (Vor allem Finanzbetrüger trieben 1998 ihr Unwesen im Netz. Das Spektrum ihrer Aktivitäten reicht von Aktienkursmanipulationen bis zur illegalen Wiederanlage von Spekulationsgewinnen. Nach Angaben der North American Securities Administrators Association haben Geprellte bereits unzählige Millionen Dollar verloren), jedoch warnte Magaziner davor, das Internet zu regulieren oder staatlicherseits zu beaufsichtigen. "Wir sagen nein zu diskriminierenden Internet-Steuern." Der erste global entstandene Markt sei ein privater Bereich. Staatlicher Eingriff sei nur als letztes Mittel geboten; für den Schutz der Privatsphäre sollten Gütesiegel unabhängiger Kontrollkommissionen sorgen. "Wer nicht mitmacht, wird auf kurz oder lang sowieso vom Verbraucher gemieden", erwartet Magaziner. Trotz unterschiedlicher Ansätze in den USA und Europa werde man sich "in wenigen Jahren" auf ein legales System einigen, das den E-Commerce beschleunigt. "Wer sich nicht daran orientiert, dessen Ökonomie wird unweigerlich zurückfallen", ist Magaziner überzeugt.

Jörg Tauss, SPD-Bundestagsabgeordneter und Mitglied der Enquetekommission Neue Medien meint hingegen: "E-Commerce wird nur funktionieren, wenn die Menschen Vertrauen finden. Das ist heute nicht der Fall." Es spricht sich einfach herum, daß Firmen wie Netscape alle Informationen über Besucher ihrer Web-Site speichern.

Doch Dämonisierung und Berührungsprobleme hat es in Zusammenhang mit neuen Medien immer gegeben, wendet Medienwissenschaftler Norbert Bolz ein. 200 Jahre nach dem Erscheinen des ersten Romans warne niemand mehr, die Herzen der Mädchen könnten beim Lesen brechen. Das Telefon wolle ebenfalls niemand mehr missen, obwohl es viel Überflüssiges transportiere. "Technische Kommunikation ist eben viel unkomplizierter als der Direktkontakt", argumentiert Bolz. Mit so manchem Zeitgenossen telefoniert man lieber, als ihn um sich herum zu haben.

"Inhalten und Kunden sollte die ganze Aufmerksamkeit gelten", plädiert Knut Föckler von der Deutschen Telekom für ein "Back to the roots". Wie man den Menschen in den Mittelpunkt der Geschäftsstrategie rücken kann, zeige das Beispiel von Amazon. com am deutlichsten. Niemand müsse Daten über sich mitteilen, der Kauf bestimmter Bücher spreche für sich selbst. Sei das Leseprofil erst einmal umrissen, erhielten Kunden individuelle Buchangebote und könnten sich auch in virtuellen Gemeinschaften austauschen. Gemäß dem Motto: "Sage mir nicht, wie du heißt, und ich sage dir, wie du bist" folge die Produktentwicklung zunehmend der Individualisierung.

Daß viele Unternehmer noch immer nichts vom Internet oder vom elektronischen Handel wissen wollen, wird sich nach Meinung von Gilmour, Berater der Giga Group in San Jose, spätestens dann ändern, wenn sie den Namen ihrer Company in die Suchmaschinen eingeben und mit Erschrecken feststellen, daß sich ihre Wettbewerber bereits um Lichtjahre besser positionieren.

Dies hat entscheidenden Einfluß auf IT-Organisationen. Spezialisten stehen unter gewaltigem Druck, eine neue Rolle einzunehmen, auf die sie überhaupt nicht vorbereitet sind. Mehr denn je reicht der Einfluß des täglichen Wettbewerbs tief in die IT-Organisation hinein, mehr denn je müssen IT-Leute nachweisen, wie sie Wettbewerbsstrategien unterstützen können. Welcher IT-Manager hat denn schon gelernt, sich in die Köpfe von Kunden, Lieferanten oder Wettbewerbern zu versetzen?

Es dürfte also kaum verwundern, wenn 1999 auch das Jahr der DV-Emanzipation der Fachabteilungen wird, Marketing und Vertrieb also über den Web-Auftritt befinden, Einkaufschefs über Intra- und Extranet-Konzepte entscheiden. Während DV- und Entwicklungsshops wohl oder übel noch tiefer als bisher in Euro- und Jahr-2000-Projekte einsteigen müssen, zieht die Konjunktur andernorts weiter an. Spätestens aber in der Frage der Sicherheit kommt man an der DV nicht vorbei. Denn die Freiheit der Anwender einzuschränken, diesen Bärendienst wollen sich die Fachabteilungen sicherlich nicht selbst erweisen.

*Winfried Gertz ist freier Journalist in München.