Konzept zur Informatik-Bildung bei einem Defizit von 100000 DV-Fachkräften:

Guter Wille soll DV-Nachwuchslücke füllen

18.12.1987

BONN - Auf breiter Front will Bonn den Mangel an DV-Nachwuchs angehen. Das Gesamtkonzept zur Informationstechnischen Bildung dazu verabschiedete der Bildungsminister und Vorsitzende der Bund-Länder-Kommission Jürgen Möllemann bereits. Es reicht von der Grundschule bis zur Universität. Allerdings erfährt die gestiegene Bedeutung des anwendungsnahen Informatik-Studiums, so der Bonner Zungenschlag, lediglich symbolische Unterstützung.

Das Loch ist unübersehbar. Für die 80er Jahre, schätzt der Arbeitsmarktanalytiker der Bundesanstalt für Arbeit (BA), Werner Dostal, fehlen weit über 30000 DV-Fachkräfte. Im Jahr 2000, prognostizieren auch andere Marktbeobachter, werde der Gesamtbedarf an Informatikern sogar rund 100000 Fachkräfte betragen. Ein Rechenexempel mit Blick nach vorn ernüchtert weiter. Derzeit nehmen jährlich rund 4500 Studenten ein Informatik-Studium auf. Hochschullehrer bezeichnen die Studienbedingungen aber als schwierig, da die Institute mit 100 Prozent und mehr überfüllt seien. Zudem seien die Studienanforderungen erheblich; die Abbrecherquote liege deshalb in dieser Disziplin hoch. So registrierte die BA für 1986 auch nur 1200 akademische Informatik-Absolventen; in diesem Jahr war es ein knappes Fünftel mehr. Die Fachhochschulen entließen entsprechend 1100 und 1200 DV-Jungexperten.

Gegen diese ausgeprägte Mangelsituation wollen die Bonner Bildungspolitiker mit dem "Gesamtkonzept zur informationstechnischen Bildung in Schule, Berufsausbildung, Hochschule und Weiterbildung" angehen. Für die Mitglieder der Bund-Länder-Kommission (BLK) gilt dabei die Lösung, Informatikinhalte stärker als bisher in den Schulunterricht einzubeziehen. Damit versucht die BLK, eine weitere Tür aufzustoßen, um die nötige Qualität wie auch Quantität an High-Tech-Nachwuchs herbeizuschaffen.

Das Bildungs-Konzept setzt bereits im fünften Schuljahr an. Ziel ist, zunächst für eine breite informationstechnische Grundbildung zu sorgen. In der Oberstufe des Gymnasiums müsse dann das Wissen im Fach "Informatik" vertieft werden. Die berufsbezogene Bildung soll hauptsächlich konkrete arbeitsplatz- und betriebsübergreifende Kenntnisse vermitteln, ohne jedoch allgemeine Fragen zu vernachlässigen. Im Bereich Hochschulen endlich stellt die Bonner Kommission das Informatik-Studium in den Mittelpunkt. Vorbild für diesen Studiengang, der seit 1969 an bundesdeutschen Hochschulen angeboten wird, waren die technischen Studienrichtungen Computer-Science und Computer-Engineering an US-Hochschulen. Das Bonner Konzept setzt neben dem Hauptfach Informatik nun aber besonders auf dessen Anwendungsgebiete.

Als Kernfach soll diese Studienrichtung nach wie vor die Informatik-Cracks stellen. Diese Experten gestalten Informatikprodukte und Dienstleistungen als Mitarbeiter in Softwarehäusern, Entwicklungsabteilungen oder als Freiberufler. Ihr Wirkungskreis sind Informatikindustrie, Handel und Beratung. Der Bedarf nach diesen Spezialisten ermißt sich aus den derzeitigen Zahlen: Weltweit beträgt der Umsatz für Hard- und Software über 400 Milliarden Dollar. Erwartet werden in den nächsten Jahren ein jährliches Wachstum bis zu 15 Prozent und ein Umsatz über die 1000 Milliarden-Mark-Grenze hinaus.

Zusätzliches Gewicht soll laut BLK-Konzept die "Bindestrich-Informatik" erhalten, also Applikationen wie etwa Medizin- oder Wirtschafts-Informatik. Großer Bedarf besteht im High-Tech-Sektor selber sowie in Anwenderbranchen. Zur Informatikindustrie bemißt sich das Verhältnis in der Nachfrage etwa zwei Drittel zu einem Drittel. Anwenderunternehmen besetzen mit Doppelqualifizierten vor allem Positionen in der inner- und zwischenbetrieblichen Organisation der Informatiknutzung, dem Informations-Management. Diese Fachleute sind außerdem im Bereich Beschaffung, Betrieb, Betreuung und Anpassung des Equipments sowie der Programme gefragt. Schließlich erhält vor allem die Schulung von Mitarbeitern, etwa in den Fachabteilungen, zunehmende Bedeutung.

Den Personalmangel verschärft auch die Wachablösung in den DV-Schaltstellen. Wenn die DV-Praktiker der ersten Stunde in Pension gehen, besetzen diese mittlerweile hochkomplexen Positionen künftig studierte Informatiker. So ist in den vergangenen vier Jahren mehr als die Hälfte der 10000 berufstätigen Informatiker auf den Arbeitsmarkt gekommen. Von einem "Sättigungseffekt" auf dem Personalmarkt könne, hält Gerhard Krüger, Telematik-Professor an der Uni Karlsruhe, Skeptikern entgegen, jedoch nicht gesprochen werden: "Die Stellenangebote für Informatiker steigen in dem Maß an, in dem sich die Berufspraxis ein Bild vom Informatiker machen kann." Erst die wachsende Zahl der Informatik-Kräfte in den Unternehmen habe den Mehrwert dieser Technologie verdeutlichen können.

Das Gesamtkonzept zur informationstechnischen Bildung in Schule, Berufsausbildung, Hochschule und Weiterbildung der Bund-Länder-Kommission in Bonn gilt indes nur als ein Notpflaster: Bei den erwarteten geburtenschwachen Jahrgängen nämlich, dem Wachstum der High-Tech-Branche selbst wie auch dem steigenden Bedarf der Anwenderunternehmen, sind sich Marktbeobachter sicher, sei wohl in den kommenden zwölf Jahren kaum die erforderliche Zahl von 100000 DV-Qualifizierten zu erreichen. Besonders verwundert die Interpretation der Bonner Bildungsexperten zum Thema "gestiegene Bedeutung des anwendungsnahen Informatik-Studiums": Nicht auf "Kosten und Geld" nämlich fuße das Gesamtkonzept, lautet die unverbindliche Erklärung; es besitze - "als moralische Verpflichtung" symbolischen Wert. Guter Wille ist wieder einmal alles.