Ungebremstes Sammelfieber ist erster Schritt ins Speicherchaos:

Gute Organisation legt Datensümpfe trocken

19.05.1989

MÜNCHEN - "Tausche Geb.datum Joh.G.Halske geg.AEG Bil.dat/Akt. Pos.II.2 v.1957 od. Höchstgeb. Zuschr.u.Chiffre NEXT= n+ 1" Letztendlich macht nur die richtige Verpackung aus schlichter Info ein höchst wichtiges, unbedingt speicherungswürdiges Datum. Konstant im Preis fallende Speicherkapazität unterstützt die grassierende Collectionitis noch. Nur sanftrigorose Maßnahmen bewahren vor dem Dateninfarkt.

Eines der großen, bislang trotz aller Beteuerungen der Hersteller von Spechermedien nicht gelösten Probleme ist das explosionsartige Anwachsen von Altdatenbeständen. Die angebotenen Konzepte beschränken sich in den meisten Fällen auf technologische Komponenten, mit Argumentationsketten, die zwar verblüffend klingen, sich bei näherer Betrachtung jedoch oftmals in der unendlichen Schleife Anschaffen - Weiterspeichern - Anschaffen auflösen. Suggeriert wird vor allem, daß schon mel von vornherein jedes, aber auch jedes Datum speicherungswürdig ist. Durch sinkende Preise für Speicherplätze auf allen Medien fühlen sich die Hersteller gestärkt - auf die Recherche-Frage, wohin mit dem Schrott, verblüffte dann auch ein Techno-Verkäufer mit der lapidaren Antwort: "Ja, da muß man dann in jede Datei gucken und sie eventuell physisch selbst: löschen."

Auch aus der Unternehmensberaterecke ist zögerliches, wenn nicht gar ausweichendes Antwortverhalten auf diese Frage zu vermelden. "Liegt nicht in unserem Aufgabenbereich bei der Projektdurchführung", oder "sind noch nicht gefragt worden" heißt es bei der einen Gruppe - "oh Gott, wir sollten bei einem Projekt sogar den Geburtstag eines Negers aus Zimbabwe abspeichern" heißt es bei der anderen.

Fazit, der Anwender ist - ob er sich dessen bewußt ist oder nicht - ziemlich allein gelassen, wenn es sich um konzeptionelle Fragen der Altdatenspeicherung handelt. Dabei ist hier ein Problemkreis angeschnitten, der durchaus seine Berechtigung hat - wenngleich auch Flexibilität und organisatorisches Geschick mit ein bißchen Diplomatie gegenüber dem speicherungswütigen Anwender allein beim zuständigen RZ-Team aufgehängt sind.

Die Hersteller bieten nur technische Information

Zu bemängeln ist grundsätzlich, daß in herkömmlichen Konzepten nur in, Ansätzen Hilfestellung bei der Frage geboten wird, wie denn eigentlich inhaltlich die explosionsartige Datenflut in den Griff zu bekommen sei. In den meisten Fällen bieten die Hersteller bei ihren Konzepten lediglich technische Information, die sich auf Aussagen wie Zugriffshäufigkeit und geeignetes Medium oder Kostenfaktor/Medium/Zugriffszeit beschränken.

So eignet sich Papier-, Mikrofilm- oder Mikrofichespeicherung nach Berechnungen von Comparex als Speichermedium bei weniger als einem Zugriff in drei Monaten** und einer Aufbewahrungszeit von ein bis zwei und mehr Jahren, optische Speichersysteme bei häufigeren Zugriffen, aber ähnlich langen Aufbewahrungszeiten. Ein automatisches Kassetten-Ladesystem ist bei weniger als 100 Zugriffen pro Tag und einer Aufbewahrungszeit von bis zu einem Jahr sinnvoll, mehr als 100 Zugriffe pro Tag und Aufbewahrungszeiten in Abhängigkeit der Zugriffshäufigkeit von bis zu fünf Jahren erfordern Plattensysteme. In Grenzbereichen (Zugriffshäufigkeit, Zeit) kann sich auch der Einsatz verschiedener Medien überlappen.

Welchen Umfang der Markt für Speichermedien besitzt, verdeutlichen Zahlen über Magnetplattensysteme. So errechnete die International Data Corporation, daß in Europa im Jahre 1988 Magnetplattenlaufwerke im Wert von etwa elf Milliarden Dollar an den Kunden gebracht wurden. Trotz neuer Speichertechnologien wie beispielsweise optischer Speichermedien, so meint Andreas Dripke, Chefredakteur der IDC Deutschland GmbH, sei dieser Markt nach wie vor gesund. Für 1993 erwartet die IDC in diesem Segment einen Umsatz von knapp 17 Milliarden Dollar - rechnet also mit einem Marktwachstum von durchschnittlich neun Prozent jährlich. Etwas anders sieht es im Tape-Markt aus, so heißt es seitens der Marktforscher. Das europäische Marktvolumen 1988, lag bei rund 1,4 Milliarden Dollar, bis 1993 dürfte es auf 1,8 Milliarden Dollar gestiegen sein.

Vorausschauendes Denken bei der DV-Organisation gehört zu den Schlüsseln für eine sinnvolle, auch inhaltliche Verwaltung angefallener Altdaten - die ja tatsächlich im Moment ihres Entstehens wichtig sind. Daten, die aus Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung (GoB) gesetzlichen Aufbewahrungsvorschriften unterliegen, seien bei diesen Überlegungen aufgrund der eindeutigen Bestimmungen ausgeklammert.

Ein Problemkreis, für den die Frage der Altdaten von hoher Relevanz ist, ist der Bereich der Anwendungsentwicklung. Die Datev e.G., einer der großen Datenhalter der Bundesrepublik mit allein 443 Gigabyte Plattenspeicher, hat in diesem Bereich eine orgnisatorische Lösung in Absprache mit den Anwendern getroffen.

Die Daten werden nach Zeitraum des letzten Aufrufes plaziert, erläutert Waldemar Kerczinsky, Gruppenleiter für Basisbetriebssysteme des Hauses. Wenn Daten für 60 Tage nicht mehr angefaßt wurden, dann werden sie auf einen niedrigeren Zugriffslevel migriert. Bis zu diesem Zeitpunkt liegen sie auf dem bestmöglichen Volume hinter Cache-Steuerungen auf Platte. Je nach anfallendem Datenvolumen werden sie für weitere 30 bis 60 Tage auf Platte gehalten, um danach auf ein Band oder eine Cartridge überspielt und für weitere zwei Jahre gelagert zu werden. Danach tritt die automatische Löschung ein. "Schrott verschwindet so automatisch", freut sich Kerczinsky. "Wir gehen davon aus, daß jemand, der zwei Jahre seine Daten nicht mehr bewegt hat, schon fast den Dateinamen nicht mehr weiß", meint der Fachmann. Dennoch gebe es selbstverständlich die Möglichkeit, über verschiedene Displayfunktionen auch diese ausgelagerten Daten anzuschauen - und sie, bei neuem Zeitturnus erneut zu laden und zu reaktivieren.

Die Datenbewegung erfolgt während des allnächtlich durchgeführten Sicherungslaufes durch eine Parametersteuerung.

In sogenannten "Clean-up"-Läufen werden die Bänder freigegeben, auf denen die Daten langzeitgesichert sind. Gleichzeitig läuft die Bereinigung der Plattenarchive über diese Bänder. "Wir gehen bei dieser Datenhaltung - die keine Mandantendaten nach Archivierungsvorschriften umfaßt - von einem kompetenten Anwender aus, der weiß, welche Daten er auch zu späteren Zeitpunkten noch benötigen wird."

Software unterstützt dabei die organisatorischen Bemühungen der RZler. Zu den Programmen, die für diesen Bereich entwickelt wurden gehört beispielsweise HSM von IBM oder DMS des Düsseldorfer Softwarehauses Sterling Software. Die Daten werden bei beiden Systemen in verschiedenen Migrationsleveln gehalten und über Parametersteuerung verwaltet. Wichtig allerdings ist es, den Einsatz solcher Programme in eine Vereinbarung zwischen Nutzer und RZ-Team einzubinden.

Damit Speicherprobleme gar nicht erst in größerem Umfang auftauchen, haben die RZ-Organisatoren der Datev ein Kontingentierungssystem für ihre mehr als 1000 TSO-User vorgelagert. Jeder Mitarbeiter besitzt ein bestimmtes Plattenkontingent. Bei Überschreitung wird der Anwender automatisch zur Entsorgung aufgefordert.

Der Blick in eine Benutzerbibliothek offenbart teils Erstaunliches und lohnt sich auf alle Fälle. So findet man beim Job Control beispielsweise auch schon mal Hardware, die schon lange ausgemustert wurde.

RZ-Profis bemühen sich, dem Anwender immer mal vor Augen zu halten, selbst zu entsorgen, damit sich die Quantität des Schrottes nicht ins Unermeßliche steigert. Hierfür sei die Space-Kontingentierung, die auch in anderen Großunternehmen Anwendung findet, eine geeignete Möglichkeit, heißt es in Anwenderkreisen.

Auch muß man allerdings variabel sein. So haben die Nürnberger eine Software entwickelt, die eine zeitlich befristete Erhöhung des Kontingents für Sonderfälle ermöglicht.

Aber auch sanfter Druck muß auf den Datensammler ausgeübt werden. Wird mal nicht aufgeräumt, bietet das System dem Säumigen nur noch ein Mini-TSO an, daß ihm lediglich die Möglichkeit des Aufräumens gibt - andere Funktionen sind schlicht gesperrt.

Das Bedürfnis nach Wieder-Holbarkeit

Die Collectionitis scheint ein Phänomen unserer Zeit zu sein. Über die psychologischen Hintergründe mögen die Wissenschaftler streiten. Es mag sein, daß mangelnde physische Präsenz des Datenmaterials (in Aktenschränken) zum einen das Gefühl für Volumina verschwinden ließ, zum anderen auch ein übersteigertes Bedürfnis nach "Wieder-Holbarkeit" weckt. Jede Installation, so wird aus Anwenderkreisen berichtet, steht irgendwann vor überquellenden Speichermedien - und unkontrollierter Freiraum sorgt in kürzester Zeit auch bei Erweiterungen für volle Speicher.

Nicht ganz unschuldig scheinen die Hersteller zu sein, die ihren Kunden konsequent suggerierten, daß ja genügend Speicherplatz zu (fast) keinen Kosten bereitgestellt werden kann - RZler stehen hier auf schwierigem Terrain; konsequente Informationspolitik und Rückhalt auch im Management können die Wirkung des "erhobenen Zeigefingers" indes so verstärken, daß die Notbremse gar nicht erst gezogen werden muß.

Profis raten zu einer "bewußt trägen", weil konstant und konsequenten Speicherhaltungspolitik und Kompromißbereitschaft aller Seiten, um Kosten niedriger zu halten. Denn letztlich kommt der geschickte Umgang mit den Daten nicht nur der Gesamtanwendung, sondern auch dem Einzelnutzer zugute.

**alle Werte sind Näherungswerte

*Horst-Joachim Hoffmann ist freier Mitarbeiter der COMPUTERWOCHE in München