Objektorientierung/Unternehmen und ihre DV-Systeme gleichermaßen gestalten

Grundzüge eines Modells für die Konvergenz zweier Welten

12.09.1997

Die meisten Unternehmen sehen sich mit den gleichen Problemen konfrontiert: Die vorhandenen Systeme bieten ihnen für die Zukunft keine Unterstützung mehr, sondern behindern bei der Erreichung strategischer Ziele. Die IT-Spezialisten sind unaufhörlich mit der Wartung und dem Herumflicken an betagten DV-Umgebungen beschäftigt und können nur die gerade dringlichsten Probleme lösen.

Das grundsätzliche Problem besteht darin, daß ein Manager eine andere Sicht auf die Herausforderungen für das Unternehmen hat als ein IT-Spezialist. Beide benutzen für ihre Arbeitsbereiche unterschiedliche Modelle - und eine kleine Änderung im Geschäftsablauf kann tiefgreifende Änderungen auf seiten der DV-Systeme erfordern.

Anstatt immer nur die Symptome zu behandeln, wären die Ursachen dieser Schwierigkeiten anzugehen. Dazu ist eine tiefgreifende Änderung der Art und Weise notwendig, wie wir unsere Informa- tionssysteme entwerfen und benutzen. Diese läßt sich durch die Objekttechnologie - mit deren Möglichkeiten zur komponentenbasierten Software-Entwicklung - und durch die Aufnahme der Konzepte des Convergent Engineering in die DV-Strategie vorbereiten.

Convergent Engineering bezeichnet eine von David Taylor entwickelte Synthese aus Unternehmensgestaltung und Softwaredesign, die es ermöglicht, flexiblere und anpassungsfähigere Programme zu konstruieren. Anwender und DV-Systeme sind beim Convergent Engineering Ausprägungen eines einzigen gemeinsamen Konstrukts, das sowohl für den Manager als auch für den IT-Fachmann gleichermaßen sinnvoll und verständlich ist.

Dieses gemeinsame Modell, auch modellbasiertes System genannt, hat den Vorteil, daß es sich synchron zum Unternehmen evolutionär verändern läßt. Notwendige Modifikationen sind aufgrund seines "ganzheitlichen" Aufbaus planbar. Und sie können ohne sonderliche Störung des Geschäftsablaufs erfolgen, da nur einzelne, leicht lokalisierbare Komponenten betroffen sind.

Die Softwaresysteme sind demzufolge nicht mehr eine Versammlung von Lösungen einzelner Firmenprobleme, sondern das Unternehmen wird als Ganzes dargestellt. Voraussetzung hierfür ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Managern und DV-Fachleuten. Convergent Engineering stellt wie eine Brücke die Verbindung zwischen beiden Bereichen her.

Der erste Schritt auf dem Weg zu einem gemeinsamen Modell besteht darin, allgemeine Darstellungen der Geschäftsbereiche und der DV einer Firma zu entwickeln. Diese werden kontinuierlich zu spezifischen Darstellungen verfeinert und erweitert. Die Konzepte des Convergent Engineering gewährleisten, daß sich beide Abbildungen schließlich zu einer zusammenfügen lassen.

Um Anwender bei dieser Arbeit anzuleiten, verwendet Convergent Engineering das Business Object Framework. Es besteht im wesentlichen aus drei abstrakten Grundtypen, die zur Beschreibung jedes beliebigen Unternehmens dienen können: Organisationen, Prozesse und Ressourcen.

Organisationen repräsentieren die Eigentümer von Geschäftsprozessen, beispielsweise Personen oder Gruppen, die für bestimmte Arbeitsvorgänge verantwortlich sind. Prozesse beschreiben eben diese Abläufe; sie verbrauchen und produzieren Ressourcen und bestehen aus einer definierten Folge zielgerichteter geschäftlicher Aktivitäten. Ressourcen sind sich selbst verwaltende Werteinheiten innerhalb einer Organisation. Sie verursachen Kosten (etwa Rohstoffe), sie stellen Werte dar (Endprodukte) und können auch Handlungsträger sein (Mitarbeiter oder Maschinen).

Diese drei Grundtypen sind für die Definition eines Geschäftsmodells sinnvoll: Sie eignen sich allgemein zu einer Beschreibung des Unternehmens, die sich direkt in Software umsetzen läßt. Sie entsprechen Begriffen aus der realen Welt, und sowohl Manager als auch DV-Fachleute können sie gleichermaßen zur Modellbeschreibung verwenden.

Die Grundtypen definieren sich in gegenseitigen Beziehungen und bilden eine einfache, abgeschlossene Basis aus drei Begriffen. Organisationen, Prozesse und Ressourcen helfen dabei, die Komplexität des Modells unmittelbar zu reduzieren, ohne jedoch die einer Firma anhaftende Komplexität dabei außer acht zu lassen.

Ganz im Sinne der Objekttechnologie ist jede Instanz eines dieser Grundtypen ein sich selbst verwaltendes Geschäftsobjekt. Auf der Grundlage expliziter Geschäftsregeln können die Objekte auch solche Aufgaben selbständig übernehmen, die bisher nicht an Softwaresysteme delegiert waren. Sie benötigen aber Eingriffe und menschliche Entscheidungen.

Im Sinne des Convergent Engineering stellen alle Geschäftsobjekte zusammen ein exaktes Abbild der Firma dar. Sie sind daher in der Lage, echte Geschäftsabläufe zu leiten oder Simulationen denkbarer Szenarien durchzuspielen. Die Unterscheidung zwischen dem eigentlichen Unternehmen und den zu seiner Unterstützung eingesetzten DV-Systemen verschwimmt somit. Es entsteht ein "konvergentes System", ein lauffähiges Modell der Firma.

Die Entwicklung eines Geschäftsmodells mit Hilfe der drei Grundtypen läßt sich in zwei Phasen unterteilen: eine erste Phase, die der Durchleuchtung des Unternehmens dient, und eine zweite Phase, die den eigentlichen Aufbau des Modells erfaßt.

In der ersten Phase werden die Schlüsselorganisationen des Unternehmens identifiziert. Anschließend gilt es, die Kerngeschäftsprozesse jeder Organisation zu analysieren und zu präzisieren. Danach werden die Ressourcen erfaßt, die jeder Prozeß benötigt.

Die Phase der Modellkonstruktion beginnt damit, die Ressourcen zu sich selbst verwaltenden Einheiten auszubauen. In einem weiteren Schritt werden die Geschäftsprozesse optimiert beziehungsweise neu aufgeteilt und schließlich die Organisationen an diese neuen Verfahren angepaßt.

Ein solches aus den drei Grundtypen aufgebautes Geschäftsmodell ist häufig das erste Modell, das ein Unternehmen überhaupt von sich konstruiert hat. Vielen Managern ist bis dahin gar nicht bewußt, wie die verschiedenen Prozesse in ihrem Betrieb ablaufen oder organisiert sind.

So ergeben sich aus diesem Geschäftsmodell - völlig unabhängig vom Softwaresystem - häufig bereits Möglichkeiten zur Optimierung von Arbeitsabläufen innerhalb des Unternehmens. Im Idealfall würde dieses Modell so weit in alle Einzelheiten verfeinert, bis es die tatsächlichen Gegebenheiten eines Unternehmens exakt abbildet. In der Praxis wird ein Geschäftsmodell sicherlich ein Kompromiß aus den tatsächlichen und den theoretisch besten Geschäftsprozessen sein.

Es handelt sich also keineswegs um ein Vorhaben, mit dem sich nur alles oder nichts erreichen läßt. Vielmehr geht es darum, klein anzufangen und das Modell Schritt für Schritt zu erweitern.

Im Unternehmensmodell ist die DV ein Bereich, der effiziente Softwaresysteme herstellt, die unter reellen Bedingungen mittels verfügbarer Techniken produziert werden müssen. Convergent Engineering soll hierbei den sinnvollen Einsatz der Objekttechnologie steuern helfen.

Eine der wichtigsten Prämissen für das Systemdesign besteht darin, daß jedem im Modell beschriebenen Geschäftsobjekt eine DV-Komponente zugeordnet ist. Zu jeder von ihnen gehört ein Dokument, ein sogenanntes Profil. Dieses enthält wichtige Erklärungen zu den verwendeten Entwurfsmustern (samt deren Grenzen) oder zeigt Implementierungsbeispiele.

Ein Profil läßt sich mit einer Bedienungsanleitung für Konsumgüter vergleichen. Außerdem muß jede DV-Komponente verschiedenen Richtlinien entsprechen: Es dürfen etwa nur standardisierte Abhängigkeiten zwischen Komponenten existieren, damit die Austauschbarkeit beziehungsweise Wiederverwendbarkeit der DV-Komponenten nicht beeinträchtigt wird.

Ebenso wie die klassische Architektur stilistische Richtlinien für grundlegende Bauelemente vorgibt, soll dies die architektonische Integrität des Softwaresystems sicherstellen. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für eine verständliche, erweiterbare, wiederverwendbare und somit evolutionäre Architektur.

Convergent Engineering ist kein Patentrezept, um im Handumdrehen die DV-Probleme eines Unternehmens zu lösen, sondern eine Vision für die nächste Epoche der DV-Innovation. Der Weg zu einem konvergenten System, in dem die Unterschiede zwischen dem Unternehmen und seinen DV-Systemen aufgehoben sind, ist schwierig und hürdenreich.

Convergent Engineering bedeutet eine Abkehr von traditionellen Software-Entwicklungstechniken, setzt also die Bereitschaft zum Verlassen ausgetretener Pfade voraus. Allerdings bietet Convergent Engineering die Möglichkeit, Konzepte in zunächst kleinen Projekten zu erproben und Erfahrungen für größere Projekte zu sammeln. Für die Annäherung an die Vision vom konvergenten System ist es nicht entscheidend, wie groß die einzelnen Schritte sind. Entscheidend ist vielmehr eine kontinuierliche Vorgehensweise.

Angeklickt

Ein radikales Umdenken in der Software-Entwicklung ist erforderlich. Dies impliziert die Abkehr von traditionellen Methoden und Techniken und eine Hinwendung zu komponentenbasierten Systemen, die im Einklang mit dem Unternehmen neue Gestalt annehmen. Auf Basis der Objekttechnologie erleichtert Convergent Engineering die Realisierung dieses Ziels. Das Konzept versucht, die Kluft zwischen Management- und DV-Denkweisen und -Handlungsmaximen zu schließen.

*Richard Hubert ist Geschäftsführer der Interactive Objects Software GmbH in Freiburg.