Grossrechneranbieter bekommen Konkurrenz von allen Seiten Cluster als ernstzunehmende Alternativen zu Host-Systemen

06.05.1994

MUENCHEN (CW) - Die Mainframe-Bastionen werden geschliffen: Umsaetze mit Grossrechnern fallen rapide, attraktive Alternativen fuer preisguenstige DV-Topologien sind technologisch zunehmend ausgereift. Mit neuen Architekturkonzepten attackieren Hardwarehersteller die Dinosaurier der DV-Branche auf dem Workstation- und PC-Level. Doch auch vom anderen Ende der Rechnerskala droht Gefahr: Massiv-parallele Rechner (MPP) dringen in kommerzielle Aufgabenfelder vor.

Zu einem zehn Milliarden Dollar schweren Geschaeft koennte sich der Markt fuer massiv-parallele Rechner innerhalb der kommenden sechs Jahre entwickeln. Schon 1998 duerften Anbieter von MPP-Systemen bis zu 8,5 Milliarden Dollar mit den zunehmend in Mode kommenden Systemen verdienen, die mit Hunderten oder gar Tausenden von Prozessoren rechnen.

Zu diesem Ergebnis kommen die Analysten des kalifornischen Marktforschungsinstitutes Palo Alto Management Group (PAMG) aus der gleichnamigen Stadt. Vor allem eine Annahme der Forscher duerfte in diesem Zusammenhang von Interesse sein: Die Anbieter von MPP-Maschinen werden zwei Drittel ihrer Systeme an Interessenten fuer kommerzielle OLTP- oder Entscheidungsunterstuetzungs-Anwen- dungen (Executive Information Systems = EIS) verkaufen - eines der angestammten Betaetigungsfelder herkoemmlicher Grossrechner.

Mit dem Niedergang der Mainframes strecken andere Hardwarehersteller ihre Fuehler aus, wollen sich als Anbieter von Host- und Server-Systemen profilieren. Zu denen, die sich im Markt der kommerziellen OLTP-Anwendungen breitmachen und damit IBM das Leben erschweren wollen, gehoert nach Meinung der PAMG ueberraschenderweise auch die Tandem Computers Inc.

Bislang ist die kalifornische Firma vor allem mit ihren fehlertoleranten "Guardian"- und "Nonstop-Cyclone"-Rechnern auf den Plan getreten. In diesem Segment haelt sie weltweit die Marktfuehrerschaft vor Unternehmen wie der Stratus Computer Corp. inne. Die Marktforscher weisen in ihren Erhebungen aber darauf hin, dass Tandem auch bereits 35 Prozent des mit MPP-Systemen ausstaffierten OLTP- und EIS-Territoriums abdeckt.

Zwar springt einem Tandem nicht sofort ins Gedaechtnis, denkt man an MPP-Systeme. Die Analysten rechnen aber vor, dass das Unternehmen unter anderem mit seinen zu Rechnerverbunden (Clustern) gekoppelten Cyclone-Boliden 1993 rund 525 Millionen Dollar umsetzen konnte. Das entspricht immerhin einem Viertel der gesamten Tandem-Einnahmen.

In der PAMG-Hitliste der Anbieter von MPP-Systemen fuer OLTP- und EIS-Umfelder folgt auf Tandem die AT&T Global Information Systems (AT&T GIS), die im vergangenen Jahr mit ihrer Teradata- Datenbankmaschine 29 Prozent des Marktes abdecken konnte. Zu den beiden Drittplazierten Intel Corp. und Thinking Machines Corp. (TMC) klafft schon eine grosse Luecke. Der weltweite Marktfuehrer im Halbleiterbereich mit einer eigenstaendigen Supercomputer-Division vereinte auf seine iPSC-860-Systeme mit sechs Prozent genauso viele Kaeufer von MPP-Rechnern wie TMC mit den "Connection- Machine"-Modellen.

Jeweils zwei Prozent verbuchen die IBM Corp., Maspar Computer Corp., die Meiko Scientific Comp. sowie die Ncube Corp. Ncubes Hauptaktionaer ist Larry Ellison, der CEO von Datenbankhersteller Oracle.

Der Rest verteilt sich auf rund 20 weitere Anbieter. Zu ihnen wird auch ICL gehoeren. Das Unternehmen trat mit dem "Goldrush"-System erst vor einigen Monaten in den Kreis der MPP-Anbieter.

Die MPP-Definition der PAMG-Mitarbeiter laesst sich allerdings durchaus hinterfragen, wie schon das Beispiel Tandem zeigt. Parallelitaet von Hardwarestrukturen kann man auf verschiedene Arten erzielen. Ein eher puristisches Verstaendnis von MPP-Rechnern wuerde sicherlich nur die mit Tausenden enggekoppelten CPUs arbeitenden Maschinen von TMC, Maspar, Ncube oder von Kendall Square Research in diese Kategorie fassen. Cluster-Systeme c la Tandem fielen hier aus dem Rahmen.

Legt man solch eine Definition zugrunde, schrumpft der Markt fuer MPP-Maschinen nach der Einschaetzung von PAMG auf lediglich 275 Millionen Dollar. Die Analysten stufen deshalb bei ihrer Prognose alle Rechner als massiv-parallel ein, die mit wenigstens 64 Prozessorknoten rechnen. Hierzu zaehlen sie auch Workstations oder Server, die ueber entsprechende Cluster-Software zu einem Rechnerkonglomerat verbunden sind. Ein nach diesem Verstaendnis definierter Markt sei 1994 auf etwa 1,5 Milliarden Dollar einzuschaetzen.

Um Abgrenzungsproblemen auszuweichen, zieht es der PAMG- Verantwortliche der Studie, Michael Bruwen, auch vor, von "skalierbarer Datenverarbeitung" zu sprechen, die die symmetrischen Multiprozessor-Topologien (SMP) mit gemeinsam genutztem Speicher (shared memory), unberuecksichtigt lassen. In der Tat kann man SMP-Rechner nicht mit MPP-Systemen in einen Topf werfen.

Die skalierbaren und von Burwen als MPP-Systeme klassifizierten Rechner besitzen nach Meinung der PAMG-Analysten unter den verschiedenen Architekturkonzepten vor allem einen Vorteil: Sie verfuegen ueber sehr weitreichende Aufruestoptionen fuer Subsysteme wie Speicher und Massenspeicher. Diese reichen bis in den TB- Bereich.

Folglich sehen die PAMG-Leute vor allem fuer Clustersysteme eine grosse Zukunft. Eingedenk der zunehmenden Bedeutung von kommerziellen Anwendungsfeldern fuer MPP-Rechner besitzen diese wegen ihrer graduellen und auf die jeweiligen Beduerfnisse abzustimmenden Ausbaufaehigkeit Vorteile gegenueber anderen Topologien.

Erheblicher Nachholbedarf bei der Software

Unternehmen wie der Convex Computer Corp. oder IBM mit ihren SP1- und SP2-Maschinen traut Burwen in den kommenden Jahren eine tragende Rolle im MPP-Segment zu: Die auf deren Systemen laufende Software kann naemlich auch im Monoprozessorbetrieb benutzt werden. Bis 1998, so Burwen, koenne er sich deshalb vorstellen, dass IBM einen Marktanteil von 25 Prozent erringt.

Einmal mehr liegt der Schluessel zum Erfolg auch bei MPP-Anbietern weniger bei der Hardware als bei robuster, sicherer und hochverfuegbarer Middleware. Hier gewinnen vor allem Datenbankprodukte an Bedeutung. Burwen konstatiert hier einen erheblichen Nachholbedarf.

Obwohl Firmen wie Oracle, Informix, Sybase und IBM mittlerweile parallelisierte Varianten ihrer Datenbankprodukte bieten koennen - oder zumindest an solchen arbeiten -, gibt es bislang keine Anwender, die ihre zeitkritischen kommerziellen Anwendungen MPP- Rechnern anvertrauen. Daher stehen auch keine Vergleichszahlen bezueglich der Rechenleistung von solchen Parallelmaschinen zur Verfuegung. Allerdings schilderte die CW-Schwesterpublikation "Computerworld" den Fall der New Yorker Beratungsfirma Kwasha Lipton, die auf einem NCR-3600-System die Alpha-Version der "Navigation-Server"-Software von Sybase installierte.

Die Erfahrungen der New Yorker muessen dem Brancheninformationsdienst "Unigram X" zufolge so negativ ausgefallen sein, dass sich der Datenbankhersteller genoetigt sah, die Auslieferung der Parallelversion der "System-10"-Datenbank um sechs Monate zu verschieben. Der Navigation Server sollte eigentlich gemeinsam mit System 10 diesen Sommer ausgeliefert werden. Implementationen fuer die Sun-, HP- und IBM-Plattformen folgen gemaess einer Abmachung zwischen AT&T GIS und Sybase mit einer Verzoegerung von weiteren sechs Monaten. Waehrend der Navigation Server uebrigens ein Zusatzmodul zu System 10 darstellt, parallelisieren die Datenbankanbieter Informix und Oracle ihre Produkte von Grund auf.

Da nach Einschaetzung der kalifornischen Marktforscher in den kommenden Jahren noch sechs weitere Unternehmen das MPP-Segment betreten werden, rechnen die PAMG-Analysten mit einer groesseren Marktbereinigung bei den Hardware-Anbietern. Lediglich acht untersuchte Firmen erzielten mit MPP-Rechnern einen Umsatz von mehr als 25 Millionen Dollar, sechzehn mussten sich hingegen mit weniger zufrieden geben. Mit den sechs zu erwartenden Neulingen muesste der Markt 30 MPP-Anbieter verkraften, was die Analysten aus Kalifornien fuer unrealistisch halten.

Fuer dieses Jahr sind neue MPP-Rechner von der Advanced Computer Research International SA des Jacques Stern, gemeinsam von Unisys und Intel, von Hitachi Ltd., Tera sowie von der Pyramid Technology Corp. zu erwarten.

Der Markt fuer OLTP- und EIS-Anbieter (Anteile in Prozent)

Tandem Computer Inc. 35; AT&T GIS 29; Intel Corp. 6;

Thinking Machines Corp. 6; IBM Corp. 2; Maspar Computer Corp. 2;

Meiko Scientific Corp. 2; Ncube Corp. 2; Andere* 15;

*20 Anbieter

Quelle: Palo Alto Management Group