Stardent-Chef sieht optimistisch in die Zukunft:

Grafik-Supercomputer werden leistungsfähiger und günstiger

25.05.1990

Neue Formen der Visualisierung und Simulation werden in den 90er Jahren die Technik und Wissenschaft mit Hilfe von grafischen Superworkstations und Supercomputern enorm verändern. Bernd Rose* sprach mit John William Produska, President den Supercomputer-Herstellern Stardent, über die Trench in Sachen Hochleistungs-Workstations und Minisuperrechnern in den 90er Jahren.

Adolf Kothe bringt auf den Punkt, was Berechnungs- und Entwicklungs-Ingenieuren heute vorschwebt, wenn sie an Visualisierung denken: Das ist wie in der Wirklichkeit, nur noch viel besser. Was den Leiter der Technischen Datenverarbeitung beim Remscheider Sitze-Hersteller Keiper-Recaro an den Möglichkeiten jüngster Computer- und Softwaretechnik so fasziniert, hat die Tragweite eines gerade beginnenden Trends: Visualisierung technisch/wissenschaftlicher Berechnungsergebnisse und ihre Animation in Echtzeit.

Und das geschieht zu Kosten, die sich kaum einer vor wenigen Jahren noch hat träumen lassen. "Da kann man auf dem Bildschirm richtig mitverfolgen, wie der Dummy in den Gurt hineinfliegt, der Sitz verformt wird und sich die entsprechenden Belastungen in der Rahmenkonstruktion nach spannungsoptischen oder anderen Kriterien ausbilden", schwärmt Kothe.

Damit nicht genug: Erstmals können solche Vorgänge auch an kritischen Stellen im aufgeschnittenen Bauteil isoliert beobachtet und verändert werden - interaktiv, also in direktem Dialog mit dem Rechner und bei geringsten Bedienungsaufwand, nur über ein Menüfeld, ohne eine einzige Programm-Zeile schreiben zu müssen.

Was jetzt zu Beginn der 90er Jahre mit der neuesten Grafik-Interface-Software AVS (Application Visualization System) von Stardent Computer auf sogenannten Superworkstations oder Grafik-Supercomputern erstmals Realität geworden ist, wird die kommende Dekade im technisch/wissenschaftlichen Anwendungsmarkt wesentlich prägen: Miterleben, was in einem Bauteil, einem Molekül oder einem Strömungsprofil wirklich vor sich geht, an jeder beliebigen Stelle. Und alles nur noch über Menü-Auswahl und ohne zu programmieren.

Bewegte Echtzeit-Darstellung von Ergebnissen

"Wahre Visualisierung", so der Präsident von Stardent Computer und Gründer des Workstation-Pioniers Apollo Computer, Dr. John William Produska, "ist mehr als nur dreidimensionale Formen fotorealistisch darzustellen. Vielmehr geht es um die räumliche, beliebig grafisch interpretierbare und in Echtzeit bewegte Darstellung von wissenschaftlichen Rechenergebnissen, die die zeitlich ablaufenden Vorgänge etwa in einem Raum oder Körper verständlich wiedergeben". Und das in einem Ablauf, dem der menschliche Vorstellungsprozeß folgen könne. "Nur so kann der Ingenieur wirklich den Vorgang verstehen, den er simuliert. Als Teil eines interaktiven Kreises aus schneller Hochleistungsberechnung und -grafik muß der Benutzer dabei jederzeit in diesen Kreis aktiv eingreifen können.

Mit "Spreadsheets für die grafische Welt der Wissenschaftler" vergleicht Produska denn auch durchaus treffend die neuen Möglichkeiten und zugleich einfache Bedienung von AVS.

"Niemand muß heute mehr programmieren, um aus den Ergebniszahlen einer Statistik verschiedene Torten- oder Balkendiagramme zu erzeugen, sondern lediglich das entsprechende Piktogramm im Menüfeld der Benutzeroberfläche seines Business-Programms aufrufen". Kaum anders sei das bei AVS. Nach wie vor läuft dabei die eigentliche Berechnung, wie etwa in der mechanischen Strukturanalyse, über eines der üblichen FEM-Programme ab. Erst die sich daraus ergebenden Zahlenkolonnen als 3D-Punkt-Koordinaten oder die jedem Raumpunkt zugeordneten Zustandsgrößen wie Druck oder Temperatur setzt AVS in interpretierbare Bildformen um.

Bei derart neuen Perspektiven muß die eigentliche Frage lauten: Was passiert mit der Wissenschaft in den nächsten Jahren? Und nicht nur in der Mechanik, sondern auch in der Chemie, Pharmazie oder Strömungsdynamik. Produska ist hier der festen Überzeugung, daß diese neuen technischen Möglichkeiten die Wissenschaften gewaltig voranbringen werden, weil man jetzt erstmals auch die Abläufe der Rechenmodelle bewegt vor Augen hat.

Informationen live miterleben

Wennfolglich Keiper-Recaro seine neueste Sitzkonstruktion mit Integralgurt aus der Rückenlehne in einem der neuen Stardent-Rechner testet, können die Ingenieure je nach Interpretationsfilter nicht nur die Deformation live miterleben.

Sie können vor allem auch genau sehen, warum das Bauteil hält oder warum nicht und ab welchem Zeitpunkt die Spannungen einen zulässigen Wert in welcher Höhe übersteigen ohne programmieren zu müssen. Das ist der Clou, den Produska denn auch als eine enorme Innovation für die Computeranwendung der 90er Jahre versteht.

Solche komfortablen Softwarewerkzeuge kommen nicht ohne eine gehörige Portion an Rechenleistung aus. Rund 30 MIPS und etwa 50 000 Polygone pro Sekunde für die Grafik sind Minimum für AVS, einer Software, die Stardent ursprünglich für seine eigenen Grafik-Superrechner entwickelt hatte, doch jetzt durch Lizenzvergabe zum allgemeinen Standard werden lassen möchte.

Waren die Workstations der 80er Jahre in erster inie auf Skalar- und Integer-Power getrimmt mit nur begrenzter Leistung bei Fließkomma-Berechnungen, werden die Grafik-Workstations der 90er hier kräftig nachholen. "Wirklich gute 3D-Animationsgrafik verschlingt enorme Leistung für die Vektorberechnung", gibt Produska zu bedenken.

Ob Produska als Workstation-Pionier der vergangenen Dekade sein jüngst aus Stellar und Ardent fusioniertes Unternehmen Stardent Computer als Trendsetter der Visualisierung verstehe? "Ich glaube schon, daß wir derzeit alle wichtigen Voraussetzungen und Chancen dazu haben, diese Rolle zu übernehmen, wie sie Apollo zu Beginn der 80er Jahre bei den damals neuen Workstations hatte. Wir müssen nur immer ein oder zwei Nasenlängen voraus sein."

Die Leistung des Unix-Rechners sei ausreichend, die Bedürfnisse selbst einer ganze Entwicklungsabteilung abzudecken. Mit bis zu 300 000 Farbvektoren in der Sekunde sei die Grafik-Einheit zudem auf die Belange der Echtzeitvisualisierung ausgelegt. Enthalten seien neben Standards wie X-Window auch die Grafikwerkzeuge OSF/Motif und PHIGS + sowie AVS.

Preis-Leistung besser als bei Mini-Super

Mit diesen Preis-/Leistungsdaten, so der Geschäftsführer Eberhard A. Witte von der deutschen Niederlassung in Köln, liege die Stardent 3000 um gut den Faktor drei besser als grafiklose Mini-Supercomputer. Deren Hardware-Hersteller hätten bisher nur auf reine Rechenleistung geachtet. Doch glaubt Produska, daß beispielsweise Unternehmen wie Convex früher oder später um eine Echtzeit-Visualisierung technisch/wissenschaftlicher Berechnungsergebnisse nicht herum kommen werden. Convex-Wettbewerben Alliant jedenfalls hätte hier schon vorgebeugt. Und mit Cray habe Stardent bereits ein gemeinsames Entwicklungsprojekt in dieser Richtung laufen.

Im Vergleich zum Wettbewerb zeigt die 3000 auch mit einem Prozessor, wer ihre Entwickler sind: Der an den Lawrence Livermore Laboratories ausgetüftelte Benchmark-Test aus 24 verschiedenen Einzelaufgaben (Livermore Loop Set) soll für die Stardent 300b einen harmonischen Mittelwert von 4,7 Mflops erbracht haben, gegenüber 2,1 Mflops bei der Apollo 10 000 und 4,3 Mflops bei der Convex C2. Und selbst eine Cray X-MP habe mit 13,8 Mflops lediglich nur das Dreifache erreicht, bei üblichen Anschaffungskosten um weit über zehn Millionen Mark. Im Vergleich dazu die 200 000 Mark für die Grundversion des neuen Stardent-Flaggschiffs, das als derzeit erster Rechner auf den neuen RISC-Mikroprozessoren R30001 3010 von Mips Computer mit der erhöhten Taktrate von 32 MHz aufbaut.

Überhaupt sieht Produska die Prozessor- und Rechner-Technik in den kommenden zehn Jahren noch schneller voran. kommen. Dabei werde in den ersten paar Jahren diese Entwicklungskurve sehr stark vom Herstellungsprozeß der Mikroprozessoren beeinflußt werden" also CMOS oder etwa Galliumarsenid, Strukturbreite der Leiterbahnen und Taktfrequenz.

Schneller nicht nur die Entwicklungen, auch härter das Geschäft: So werden die 90er Jahre der Rechnerindustrie eine Fülle an Zusammenschlüssen, Aufkäufen und Kooperationen in jeder Hinsicht bescheren und. das Computer-Business erheblich von dem der 80er Jahre unterscheiden. Erst im März hatte sich Cray Research den amerikanischen Hersteller von Mini-Supercomputern Supertec einverleibt und war mit Multiflow einer der drei bedeutendsten Hersteller aus dieser Branche wegen Geldmangel aus dem Geschäft ausgestiegen.

Welchen Geldeinsatz Neugründungen in der Hardware-Arena mittlerweile verschlingen? Bei Apollo hat das zu Beginn der 80er Jahre noch 12 Millionen Dollar an Venture-Kapital gekostet, bevor wir an die Börse gingen. Stardent dagegen hat bisher immerhin schon 160 Millionen Dollar verschlungen". Doch verfüge Stardent durch den japanischen Kubota-Konzern über beachtliche finanzielle Reserven, wie es für ein mit Venture-Kapital gegründetes Unternehmen einmalig sei.

Nach Schätzungen von Stardent dürfte der Markt für Grafik-Superrechner 1990 weltweit bei 350 bis 375 Millionen Dollar liegen, mehr als das Doppelte des Vorjahres. In zwei bis drei Jahren werde der Markt voraussichtlich die Milliarden-Dollar-Marke überschreiten.

*Bernd Rose ist freier DV-Fachjoumalist in München