Wirtschaftsredaktion der Süddeutschen Zeitung

Götterdämmerung der Industrieländer

13.11.1981

Der Augenblick verdüstert sich. Selbst wer kein Apostel des Trübsinns ist, wird heute weniger zuversichtlich in die wirtschaftliche Zukunft schauen als in den meisten Perioden der letzten dreißig Nachkriegsjahre. Das liegt nicht so sehr an den Unfällen der Tagespolitik, etwa im Bereich des Haushalts. Die Unruhe geht tiefer, kommt aus den Ursachen solcher Verwerfungen. Beginnen auch wir, abzuwirtschaften, ähnlich wie die Engländer? Scheint es sich gar zu einer Art Naturgesetz zu entwickeln, daß die alten Industrieländer im Laufe der Zeit ermatten und überrundet werden? Wo man sich in Europa auch umsieht - überall die gleichen Probleme einer kraftlos gewordenen Industriegesellschaft: Überkapazitäten, veraltete Strukturen, Inflation, enorme Sozialleistungen, wachsende Arbeitslosigkeit.

Neue Prosperität

Überall findet sich deshalb der Wunsch nach Beschäftigungsprogrammen, weil man unfähig oder unwillens ist, den Anschluß an eine neue Prosperität auf dem einzig richtigen Weg der Leistung wenigstens zu versuchen. Ob Stahl- oder Bauindustrie, ob Werften oder Textilfabriken, fast überall florieren bloß einzelne, dank gutem unternehmerischen Spürsinn günstig im Markt liegende Betriebe, nirgendwo aber ganze Branchen. Und das ist nicht bloß das übliche professionelle Gejammer, sondern ein wirklicher Niedergang. Es gibt Ausnahmen wie der vorzüglich im Export etablierte Anlagebau oder der Bereich der Mikroelektronik, der freilich alles andere als arbeitsintensiv ist. Aber sie sind eben nicht die Regel.

Daß dabei in der Größe der Unternehmen eine Garantie für den Erfolg liegen soll, dieser jahrzehntelang schier unausrottbare und lange auch durch das Steuersystem geförderte Irrglaube wird heute zunehmend widerlegt. Die beweglicheren, freilich durch gesetzliche Auflagen vom Mitbestimmungsgesetz bis zum Kündigungsschutz auch weniger eingeengten Kleinbetriebe zeigen sich zunehmend als krisenfester und als Rückgrat einer Volkswirtschaft in schwierigen Zeiten.

Die Frage läßt sich also stellen, wenngleich noch lange nicht beantworten, ob die alte Welt in einer posthumen Industriephase und schon über ihrem Höhepunkt ist. Vieles deutet darauf hin, manches aber auch auf das Gegenteil, so die von neuen Technologien -

vom Computer bis zum Reaktorbau - ausgehenden Impulse und die Fähigkeit etlicher (relativ weniger) Firmen und Branchen zur Innovation. Jedenfalls läßt sich noch keine sichere Prognose stellen. Aber eine eher gefährliche Tendenz ist erkennbar. Setzte sie sich durch, würde damit ein ganzes Fragenbündel entstehen. Wo und wie ließen sich zum Beispiel dann noch Spielräume für neues Wachstum gewinnen? So sehr das von den Gewerkschaften gewünscht wird - staatliche Beschäftigungsprogramme hielten nur vorübergehend industrielle Strukturen und Betriebsgrößen über Wasser.

Wie müßte sich, eine weitere "Frage, das Sozialsystem verändern, gäbe es kein Wachstum mehr in einem Umfang, das aus der Beschäftigungsmisere herausführt? Eine Zunahme des Sozialprodukts um ein oder höchstens zwei Prozent, welches die wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute am Montag für 1982 voraussagen dürften, wird dafür jedenfalls nicht reichen. Dabei ist noch ganz ungewiß, ob sich selbst diese bescheidene Prognose bewahrheiten wird, zumaI der wachsende Export den Rückgang der Inlandsnachfrage kaum wird voll ausgleichen können. Die Bundesregierung hätte diese Gutachten für die Aufstellung ihres Nachtragshaushalts 1982 durchaus nicht abzuwarten brauchen. Das nachträgliche Etat-Defizit von zehn Milliarden Mark kann auch nur jene überraschen welche bei der mühsamen Geburt des schon Wochen später auch offiziell zur Makulatur gewordenen Etats 1982 offenbar bewußt die Augen davor verschlossen haben, daß in einer Rezession Steuereinnahmen sinken und zugleich Ausgaben wachsen müssen.

Beurteilt man die Aussichten für 1982 realistisch und nicht durch eine völlig unangebrachte rosarote Brille, so kommt man auf noch höhere Defizite als bisher unterstellt übrigens auch bei den Ländern. Das sollte eigentlich die Bundesregierung nun veranlassen, einige der weitgehenden und recht mutigen Sparvorschläge der Union aufzugreifen. Kanzler Schmidts Hinweis auf eine notwendige Allparteien-Koalition in dieser Frage weist durchaus in diese Richtung.

Es ist bei allem nur ein schwacher Trost, aber immerhin ein Trost, daß die gesellschaftspolitische - nicht die ökonomische - Ausgangslage für eine unentbehrliche Neuentfaltung der wirtschaftlichen Kräfte in der Bundesrepublik mit ihrer ausgeglichenen Sozialstruktur günstiger ist als in den meisten übrigen alten Industrieländern. Von manchen Schreihälsen sollte man sich nicht beirren lassen. Eine Revitalisierung, bei der man sich wohl mehr auf den unterschätzten Klein- und Mittelbetrieb als auf das überschätzte Großunternehmen wird stützen müssen, drängt sich auch deshalb auf, weil die wesentlichen Demokratien, so überlegen ihr mehr oder minder liberales Wirtschaftssystem dem planwirtschaftlichen des Ostens auch ist, kaum mit den Folgen längerer Rezessionen oder auch nur Stagnationen fertig werden können - weil sie immer von Wahlterminen bedrängt werden. Die wachsende Inflation in den meisten Industriestaaten ist nur ein Beweis dafür. Sie zeigt, daß man die Notenpresse in Gang setzt, statt die Ansprüche den geschmälerten Sozialprodukten anzupassen. Das führt nur immer tiefer in den Irrgarten hinein.

Ausweg Leistung

Allein zwei Wege weisen aus dem Irrgarten. Da gäbe es erstens die Selbstbescheidung. Damit ließen sich, zumal bei dem erreichten Standard, auch längere Wachstumsphasen überstehen, ließe sich das sogenannte Nullwachstum ertragen, für das freilich meistens die pensionsberechtigten Bezieher öffentlicher Einkommen in unkündbarer Stellung plädieren. Aber schon das System der Altersversorgung - dynamische Rente im Umlage- und nicht mehr im Kapitalansammlungsverfahren - zeigt daß diese Träume vom beschaulichen Leben in einer betulichen Welt eben Träume sind.

Wer sich das klar macht, kann keinen Illusionen mehr nachhängen. Er muß

vielmehr zweitens erkennen daß der Prozeß der ökonomischen Ermattung und der in Ansätzen erkennbaren industriellen Degeneration ins Gegenteil verwandelt erden muß. Dabei ist es durchaus nicht allein die Produktion, sondern auch die Dienstleistung unter Einschluß der öffentlichen, wo Revitalisierungs-Spielräume liegen. Die eigene Einstellung zur Arbeit und Leistung ist das Entscheidende. Wir leben nicht im Schlaraffenland. Aber auch nicht im Armenhaus. Doch dorthin könnten wir kommen.

Entnommen der Süddeutschen Zeitung vom 24./25. Oktober 1981, S. 4