IT im Handel/Handel hängt zu sehr an alten Systemen

Globalisierung: Individuelle Standardlösungen halten nicht Stand

21.07.2000
Handel und Wandel gehören eigentlich engstens zusammen. Dass sich große Teile des Handels indes beharrlich dem Einsatz von Standardlösungen verweigern, während der Einsatz von E-Commerce-Lösungen ansteht, stimmt bedenklich. Alexander May* beleuchtet die Szene.

Standards sind heute die wichtigste Basis der modernen Informationstechnologie (IT). Sie ermöglichen weltweit grenzenlosen Datenzugriff und Informationsaustausch mit Netzwerktechnologien wie dem Internet. Die Globalisierung der Märkte übt verstärkt Druck auf den Handel aus und zwingt auch die IT-Verantwortlichen zu immer mehr Flexibilität. Trotzdem setzen rund 70 Prozent aller Handelsunternehmen in der zentralen Warenwirtschaft und Distribution derzeit noch auf individuelle Softwarelösungen. Dietmar Saddai, SAP-Geschäftsführer Retail Solutions, kann die Ist-Situation im Handel auch aus der anderen Perspektive bestätigen, denn nur jeder Fünfte (also 20 Prozent) von ungefähr 700 SAP-Retail-Kunden nutzt die integrierte Warenwirtschaftskomponente.

Die Gründe dafür sind vielfältig und teilweise in der Geschichte der IT begründet: Oft werden Geschäftsprozesse durch individuelle Lösungen besser unterstützt, und Standardsoftware bietet bislang nur Lösungen für das Rechnungswesen, die Material- oder Personalwirtschaft beziehungsweise die Logistik. Viele Standardlösungen sind in den 80er Jahren im Industriebereich entstanden und wurden erst später an die Bedürfnisse des Handels angepasst. Das ist heute ein großes Problem, da der Handel völlig anders organisiert ist und dort andere Geschäftsprozesse ablaufen als in einem Produktionsbetrieb. So lässt sich eine heterogene Händlerstruktur mit ausgelagerter Logistik und verschiedenen Vertriebslinien wie beispielsweise Discount oder Vollsortiment-Anbieter beziehungsweise Filiale oder Großhandel von einer zentralen Warenwirtschaft nur schwer abbilden. Viele Softwarehäuser sind deshalb allein mit der Entwicklung einer geeigneten Standardsoftware für den Handel überfordert. Das erklärt auch den Trend zu strategischen Partnerschaften und Kooperationen beispielsweise mit Oracle oder Retec in diesem Markt.

Ein weiterer Aspekt betrifft die Zukunft: Investitionen in die Logistikkette sollen Wettbewerbsvorteile schaffen. Dabei will der Handel gemäß einer Studie der Bundesvereinigung Logistik künftig die Logistikkosten von 21 auf 15 Prozent des Gesamtumsatzes senken. Dazu bedarf es einer Optimierung der kompletten Logistikkette vom Lieferanten bis zum Kunden. Ein Vorhaben dieser Größenordnung gelingt aber nur mit unternehmensübergreifenden Softwarestandards. Für Efficient Consumer Response (ECR) ist außerdem ein offener Datenaustausch in der Logistikkette nötig, denn nur so lassen sich Lieferzeiten verkürzen, der Servicegrad erhöhen, die Transportplanung optimieren und Lagerbestände senken.

Dabei fürchtet sich der Handel aber gemäß einer Studie der Karlsruher Unternehmensberatung Logo-Team vor der Abhängigkeit von Dritten (Softwarehäusern oder Logistikdienstleistern mit Softwarelösungen), dem Verlust von Vorteilen gegenüber Wettbewerbern und vor der Gefahr, dass sensible Daten nach außen dringen könnten. Während oder nach dem Umstieg auf eine Standardsoftware erwarten die Händler Reibungsverluste. DV-Abteilungen der Handelsunternehmen blockieren aus Existenzangst den Einsatz von Standardsoftware. Das ist aber unbegründet, denn auch jede Standardsoftware muss auf die Bedürfnisse des Kunden zugeschnitten werden. Dabei kann der Aufwand für eine Implementierung die Kosten für Lizenzgebühren sogar übersteigen.

Mit Blick in die Zukunft zeichnet sich eine Trendwende ab. Die Softwarehäuser streiten derzeit um einen milliardenschweren Markt. Laut einer Marktuntersuchung von SAP planen heute bereits 71 Prozent von 26 Handelshäusern mit einem Durchschnittsumsatz von sieben Milliarden Mark eine Standardlösung. Das ist nicht verwunderlich: Individualsoftware muss zwangsläufig an sich permanent verändernde Geschäftsprozesse, die durch die Europäisierung des Handels zunehmend unternehmensübergreifend gestaltet sind, angepasst werden. So wird zum Beispiel die Umstellung auf den Euro von der teilweise alten Individualsoftware nicht oder nur teilweise bewältigt.

Auch neue Herausforderungen wie die Integration von Fremdsystemen zur Steuerung logistischer Prozesse, zum Beispiel die Einbindung automatischer Hochregallager in die bestehende Warenwirtschaft, - die unternehmensübergreifende Kommunikation im Rahmen des Supply-Chain- Managements, zum Beispiel der Austausch von Verkaufszahlen, Lagerbeständen oder Orders über das Internet (mit CPS/EQOS von Sainsbury´s oder SIS von Safeway) oder die Kommunikation zwischen Internet-Shops und Backoffice erfordern standardisierte Dateninhalte, Übertragungsprotokolle und Schnittstellen.

Die Kosten für Eigenentwicklungen werden von den geringen Margen im Handel nicht mehr gedeckt. Standardsoftware erweist sich dabei als vorteilhaft, da sie der Hersteller permanent weiterentwickelt und das Unternehmen somit nicht von internen Ressourcen und eigenem Humankapital abhängig ist. Außerdem lassen sich durch den Einsatz von Standardsoftware Best-Practice-Prozesse abbilden.

Wettbewerbsvorteile gehen verlorenRainer Olbrich, BWL-Professor an der Fernuniversität Hagen, weiß, dass Handelsunternehmen bei ihrer Suche nach Standard-Warenwirtschaftssystemen oft übertriebene Erwartungen haben, da bisher im Handel wenig Bedarf an der Beschäftigung mit IT-unterstützter Prozessoptimierung bestand. Es mangelt an Spezifikationen der Prozesse, die durch ein Warenwirtschaftssystem abgebildet beziehungsweise unterstützt werden sollen. Vernachlässigt man aber diese Vorgehensweise, so werden redundante Datenbestände aufgebaut und bleiben wichtige Ressourcen für dispositive Zwecke wie zum Biespiel Sortimentsanalyse oder Vertriebs- und Marketing-Controlling ungenutzt. Im Ergebnis gehen Wettbewerbsvorteile verloren.

Deshalb sind Systemintegratoren gefragt, die Handelsunternehmen bei der Analyse ihrer Geschäftsprozesse unterstützen, spezifische Branchenerfahrung in Best-Practice-Lösungen einmünden lassen und den Kunden mit aktuellen Lösungen und Techniken im Supply-Chain-Management herstellerunabhängig beraten. Aus der Geschäftsprozessanalyse resultieren dann genaue Spezifikationen oder Pflichtenhefte, die die zu optimierenden Prozesse genau beschreiben. Auf dieser Basis lassen sich dann maßgeschneiderte Lösungen unter Berücksichtigung objektiv optimaler Technologien entwickeln und umsetzen. Mit professionellem Change-Management muss schließlich die unternehmensweite Akzeptanz des neuen IT-Systems oder der neuen Prozesse gefördert werden.

Fazit: Systemintegratoren müssen die "IT-Think-Tanks" der Handelshäuser werden. Als diese müssen sie neue Konzepte in die Handelslandschaft tragen und in lauffähige Systeme umsetzen, die Investitionen schützen und mit Marktpartnern integrierbar sind. Dabei werden und können sie die DV-Abteilungen der Kunden nicht arbeitslos machen. Die Handelsunternehmen sollten deshalb mit den Systemintegratoren langfristige Partnerschaften für den Transfer von qualifiziertem Know-how, eine professionelle Beratung und die Umsetzung sowie Betreuung der IT-Lösung aufbauen. Bis dahin gibt es auf beiden Seiten noch viel zu tun.

Quellen:-Dieter Ahler, Rainer Olbrich: "Integrierte Warenwirtschaftssysteme und Handelscontrolling", Schäfer-Poeschel Verlag, Stuttgart 1997-"Der Handel. Das Wirtschaftsmagazin für Handelsmanagement", Heft 12/1998

* Alexander May ist Vertriebsingenieur im Fachbereich Key- und Account-Management Handel bei der Gedas GmbH in Berlin.

Abb:Selbstentwickelte IT-Systeme sind im Handel prozentral häufiger als in anderen Branchen. 8400 Unternehmen wurden befragt. Quelle: Konradin