Glasnost in der Computerwelt

09.06.1989

W. Michael Blumenthal, Unisys-Chairman und CEO

In der Computerindustrie werden in letzter Zeit verstärkt Diskussionen über "Öffnung" und "Restrukturierung" geführt, als sei man in Moskau. Der Redestrom, der Begriffsschwall und die fachchinesischen Kürzel der Branche könnten ein ganzes Institut von Kreml-Spezialisten beschäftigen.

Im Grunde genommen ist aber alles weniger kompliziert als es scheint. Allerdings sollten diejenigen erkennen, die von den rund 50 Millionen Computern weltweit abhängig sind oder Computer nutzen daß eine echte Revolution auf dem Gebiet des Informationsmanagements im Gange ist. Mit 40 Jahren Verspätung beginnt der größte, aber auch komplizierteste Industriezweig, sich auf herstellerneutrale Standards zu einigen, die es erlauben, auf verschiedenen Computern ein und dieselbe Software laufen und die Systeme miteinander kommunizieren zu lassen.

Es ist eine Revolution, die sich in gestandenen Industriebereichen in aller Stille vollzogen hat. Standardisierung und Offenheit sind selbstverständlich bei Produkten wie Telefon, Fernsehgerät, Radio, CD-Spieler etc. Ganz gleich, von welchem Hersteller diese Produkte stammen, sie können problemlos genutzt werden.

Wären Computer in einer ähnlichen Weise offen, hätte das enorme positive Auswirkungen. Die Produktivität bei den Anwendern würde immens steigen, die Kosten für Datenverarbeitung rapide fallen. Unter den Anbietern würde sich der Wettbewerb weiter verschärfen und den technischen Fortschritt noch mehr beschleunigen.

Das alles hat sich in den letzten fünf Jahren im Mikrocomputerbereich bereits abgespielt. In bezug auf Standardisierung ist damit dieses Marktsegment am weitesten fortgeschritten.

Oberhalb des Mikrocomputersektors kommt gegenwärtig das Betriebssystem Unix, das vor 20 Jahren von AT&T entwickelt und seither lizenziert wird, einem herstellerneutralen Standard für die Entwicklung von Softwareprogrammen am nächsten.

Das ist nicht ohne Einfluß auf den Markt geblieben. So ist der Absatz von Unix-basierten Systemen in den letzten zwei Jahren um mehr als 70 Prozent gestiegen. Bis zum Beginn der 90er Jahre werden wahrscheinlich mehr als ein Viertel aller weltweit verkauften Computersysteme unter Unix laufen.

Der Haken dabei ist, daß AT&T selbst auch Computer verkauft und daß AT&T an Sun Microsystems beteiligt ist. Ein Unternehmen, das noch mehr Unix-Maschinen verkauft, wobei beide Gesellschaften nach einer führenden Rolle zu streben scheinen.

Einige konkurrierende Hardwarehersteller fürchten, daß AT&T die Weiterentwicklung von Unix mehr zum eigenen und zum Vorteil von Sun beeinflussen könnte oder wollte. Diese Hersteller haben sich zur Open Software Foundation (OSF) zusammengeschlossen, um eine eigene Version von Unix zu entwickeln. Jedes der beiden Lager versucht jetzt, die restlichen DV-Hersteller vom Vorteil und Nutzen ihres Konzeptes zu überzeugen.

Wie kam es zu dieser Entwicklung, warum kommt dieses Bestreben nach Öffnung bei Computersystemen so spät, und weshalb wird so scheinbar gegensätzlich diskutiert ?

Als ich 1980 als Laie in die Computerindustrie einstieg nahm ich an, die Probleme wären technisch bedingt. Bald wurde ich eines Besseren belehrt. Das größte Hindernis war (und ist) das Eigeninteresse der etablierten Anbieter. Denn die Welt der geschlossenen Computersysteme kann für Hersteller mit einer festen Kundenbasis sehr gewinnträchtig sein, und entsprechend eigennützig verhalten sich manche Anbieter.

Ich spräche aus Erfahrung: Unisys ist beziehungsweise war ein solcher Anbieter von sogenannten geschlossenen Computersystemen. In der Welt der geschlossenen Systeme laufen Kunden Gefahr, daß die Systeme untereinander nicht kommunizieren können und die Investitionen in die bestehende Software sehr kostspielig werden, wenn sie ihren Hersteller wechseln oder Geräte eines anderen Anbieters kaufen. In der Welt der geschlossenen Systeme hat jeder Hersteller seine eigenen Standards.

Herstellerneutrale Standards würden diese unnatürlichen Hindernisse für den Wettbewerb mit dem entsprechenden Risiko für die etablierten Hersteller beseitigen. Ein Risiko, das in der Reaktion auf die Forderung der Anwender nach offenen Systemen bisher zur Spaltung in die beiden Lager um AT&T und OSF geführt hat. Was sollten nun die Anwender, um die es in der Diskussion um "offene Systeme" eigentlich geht, bei der Bewertung der Situation zwischen AT&T und OSF berücksichtigen?

Drei Basisfakten:

1. Keines der beiden Lager hat bisher Herstellerneutralität erreicht. AT&T muß den potentiellen Konflikt zwischen seinen eigenen Bestrebungen als Computerhersteller und seiner Rolle als Unix-Entwickler für die Industrie lösen. Die jüngsten Statements deuten darauf hin, daß AT&T diese Notwendigkeit erkannt hat.

Auf der anderen Seite hat die OSF ihren eigenen Interessenkonflikt und eigene technische Probleme. Die Unix-Variante der OSF soll aus den Technologien der Mitgliedsunternehmen entwickelt werden, wofür die entsprechenden Spezialisten zur Verfügung gestellt werden. Dabei kommt die Kerntechnik von IBM, dem größten Unternehmen der DV-Industrie und bekannt für seinen Widerstand gegen die Ausbreitung herstellerneutraler Standards. Es wird für die OSF eine große Herausforderung sein, ein Betriebssystem und Entwicklungsprogramm zu erstellen, das völlig frei von den Einflüssen der einzelnen Anbieter ist, damit die bisherigen Investitionen der Anwender in installierte Unix-Systeme geschützt werden.

2. Wir benötigen einen einzigen Standard - nicht zwei. Der beste Weg, um die Öffnung zu verlangsamen, ist die Ausbreitung konkurrierender Standards. AT&T besitzt ein weit verbreitetes Produkt und ein erfahrenes Entwicklungsteam, während die OSF die Rechte für eine andere, vielversprechende Technologie hat und plant, eine herstellerunabhängige Institution für die Überwachung der Produkt- und Standardentwicklung zu errichten. AT&T und OSF sollten den Vorschlägen von Herstellern und Anwendern folgen und gemeinsam versuchen, eine herstellerunabhängige Unix-Version zu entwickeln. Alle Anwender - insbesondere die US-Regierung und die EG - sollten sich für einen solchen Standard mit Nachdruck einsetzen.

3. Je mehr Anwender sich für offene Systeme aussprechen, um so schneller werden sie kommen. Der Streit um Unix ist nur die Spitze des Eisberges. Denn, daß die Forderungen der Anwender bereits erfolgreich Wellen schlagen, zeigen Beispiele wie die kürzliche weltweite Einigung auf den sogenannten OSI-Standard für den Datenaustausch zwischen unterschiedlichen Systemen oder die fortschrittlichen Sprachen der 4. Generation und die systemneutralen Datenbanken. Und letztlich richten sich die beiden (noch) konkurrierenden Unix-Lager um AT&T und OSF nach den Standards die von dem US-amerikanischen National Bureau of Standards und der X/Open Group spezifiziert worden sind.

Zusammengefaßt läßt sich feststellen, daß die Anwender heute Mut fassen können. Die 90er Jahre werden die Glasnost-Ära für den Computermarkt.

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung aus Monitor, dem Unisys-Magazin, Nr. 2/89.