Rückzug von Control Data verhilft Siemens zu Supercomputer-Coup

Gigabit-Netzwerk setzt neue Maßstäbe für die Wissenschaft

26.01.1990

HANNOVER (pg) - In unvorstellbare Netz- und Rechner-Dimensionen dringt die Universität Hannover vor. Im Zuge neuer Investitionen wird das Rechenzentrum der Hochschule mit Ultranet, einem Netz in Gigabit-Technologie, sowie einem Supercomputer S400/10 von Siemens/Fujitsu ausgerüstet.

"Wir versuchen in der Rechnerkommunikation im Laufe der nächsten Jahre in den Gigabit-Bereich vorzustoßen", erläutert Helmut Pralle, Professor an der Universität Hannover und Leiter des Regionalen Rechenzentrums Niedersachsen (RRZN), die ehrgeizigen Pläne an der Hochschule. Derzeit im Campus von solchen Geschwindigkeiten noch weit entfernt, haben sich die Planer für ein Rechnernetz des Typs Ultranet in Gigabit-Technologie von Ultra Network Technologies entschieden. Die Kosten belaufen sich auf rund sieben Millionen Mark.

Nach Ansicht des Wissenschaftlers werden in naher Zukunft in der Forschung solche Übertragungskapazitäten unerläßlich sein."Sie sind", so Pralle, "insbesondere bei der Visualisierung wissenschaftlicher Rechenergebnisse nötig".

Trotz der gigantischen Perspektiven müssen im Netz-Bereich vorerst noch kleine Brötchen gebacken werden. Das Supernetz wird nämlich frühestens im dritten Quartal in Betrieb gehen können und selbst dann noch nicht voll leistungsfähig sein. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens sind Techniker derzeit in München dabei, die Ultranet-Software auf das Betriebssystem VSP/I, unter dem die Vektorrechner laufen, zu portieren. Zweitens wird der von Fujitsu gebaute Rechengigant vorerst nur den Block-Multiplex-Kanal mit 4,5 Megabyte Übertragungskapazität pro Sekunde unterstützen, nicht aber den von Cray definierten und von der ANSI standardisierten 800-Megabit-Highspeed-Kanal.

In diesem Punkt haben die Projektplaner in Verhandlungen mit den Japanern aber schon vorgesorgt. Sie ließen sich die Nachrüstung der rund 27,4 Millionen Mark teuren Einprozessor-Maschine zusichern. Der RZ-Leiter rechnet damit, daß die Fujitsu-Techniker ihr Versprechen bis zum Frühjahr 1991 einlösen werden. Ab Herbst, wenn Ultranet installiert ist, wird innerhalb des Uni-Geländes im Backbone-Bereich Kommunikation immerhin schon mit einer Geschwindigkeit von 30 Megabit pro Sekunde möglich sein.

Allerdings ist nicht nur der fehlende Superkanal bisher ein Hindernis für die ersehnte schnelle Datenübermittlung. Sorgen bereiten Pralle vor allem die leistungsschwachen Netz-Verbindungen über die Campus-Grenzen hinaus. Die Universität ist nämlich im Zuge gemeinsamer Wissenschaftsprojekte mit anderen Hochschulen und Institutionen des Bundeslandes im Niedersächsischen Rechnerverbund (NRV) zusammengeschlossen. Außerdem hat Niedersachsen mit den Ländern Berlin und Schleswig-Holstein eine gegenseitige Nutzung der Supercomputer im Norddeutschen Vektorverbund (NVV) vereinbart.

Bemühungen des NRV und NVV, so der Professor, mit der Bundespost ein Arrangement in zumindestens Ethernet-Geschwindigkeit zu treffen, sind bisher am fehlenden Angebot des gelben Riesen gescheitert. Jetzt ruhen die Hoffnungen auf dem DFN-Verein. Pralle: "Unsere Netzpläne für die schnelle DV-Kommunikation sind mittlerweile in die Planung des DFN-Verein eingeflossen."

DFN-Verein und Telekom pokern um Highspeed-Netz

Vertreter dieser Organisation führen zur Zeit Verhandlungen mit der Telekom über die Errichtung eines Highspeed-Netzes. Auf der Wunschliste der DV-Experten und Forscher steht ein Geschwindigkeitsspektrum von 10 bis 140 Megabit pro Sekunde. In Hannover wäre man für ein solches campusübergreifendes Netz gerüstet.

Eine der Voraussetzungen dafür ist vor allem der Fujitsu-Supercomputer. Die Münchner hätten den Auftrag nicht an Land gezogen, wäre der Support des 800-Megabit-Kanals nicht zugesagt worden. Überhaupt hat der Zufall dem deutschen Konzern mächtig geholfen. Anfang 1989 hatten sich die Verantwortlichen nämlich schon auf die ETA-10 von Control Data festgelegt. Als jedoch

die Amerikaner überraschend über Nacht im Supercomputer-Geschäft das Handtuch warfen, konnten alle Bewerber ihre Angebote aktualisieren.

Siemens, das bei der Ausschreibung des insgesamt 35 Millionen Mark umfassenden Projekts - es wird zu je 50 Prozent von Bund und Land finanziert - noch mit einem alten VP-Rechner konnte dadurch modernere Technik ins Spiel bringen.

Alter VP-Computer dient bis Herbst als Notnagel

Der Superrechner, der im Endausbau bis zu fünf Milliarden Rechenoperationen pro Sekunde (5 GFLOPS) leistet, setzte sich letztlich, so der RZ-Leiter, aus drei Gründen gegen die Konkurrenten Cray und NEC durch: Erstens sind in Berlin und Kiel bereits Cray-Maschinen implementiert, die Statuten des NVV sehen aber alternative Rechnerarchitekturen vor. Zweitens überzeugte das Siemens/Fujitsu-Produkt die Entscheider durch den neuesten

technischen Stand. Drittens schließlich sicherten die Japaner die Realisierung des 800-Megabit-Kanals zu.

Da der Einprozessor-Rechner S400/10 erst im Herbst geliefert werden kann haben sich die Vertragspartner auf einen Drei-Stufen-Plan geeinigt. Bis zum Zeitpunkt der S400/10-Lieferung wird im RRZN ein VP200EX mit 850 MFLOPS als Notnagel aufgestellt. In der zweiten Phase löst dann eine 2 GFLOPS leistende Version des S400/10 den Übergangsrechner ab. Der dritte und letzte Schritt sieht schließlich 1991 den Ausbau der Maschine auf die Maximalkonfiguration von 5 GFLOPS vor.