Datenverarbeitung zwischen Forschung und Praxis

GI-Präsident Barth: "IT ist Sauerstoff für Gesellschaft"

29.10.1999
Die Gesellschaft für Informatik (GI) zeigt sich bemüht, dem Elfenbeinturm universitärer Grundlagenforschung zu entfliehen. So lautete das Motto ihrer 29. Jahrestagung, die kürzlich in Paderborn stattfand: "Grenzen überwinden". Darüber, welche vorrangigen Aufgaben Informationstechnologie heute zu bewältigen hat, unterhielt sich CW-Redakteurin Ulrike Ostler mit dem GI-Präsidenten Gerhard Barth, der zugleich Generalbevollmächtigter bei der Dresdner Bank ist.

CW: Sie bezeichnen die Informationstechnologie als "Sauerstoff für die Gesellschaft". Was soll das bedeuten?

BARTH: Menschen brauchen Sauerstoff zum Leben; die Gesellschaft benötigt Informationen für den Fortschritt - in kultureller, soziologischer und vor allem kommerzieller Hinsicht. Für Hersteller und Anbieter sind sie notwendig, um Kundenprofile erstellen zu können, damit die Produktion den Marktbedürfnissen entspricht. Kunden benötigen die Information, um sich einen Überblick über das Angebot zu verschaffen.

CW: Sie beziehen sich insbesondere auf das Internet?

BARTH: Heute ist das Internet die umfassendste Informationsquelle. So wundert es nicht, daß in den USA bereits mehr als 20 Prozent der Autokäufe direkt online getätigt werden oder zumindest die Kaufentscheidung über das Web vorbereitet wird.

CW: Das ist nur eine Seite. Das Überschwemmen der Benutzer mit qualitativ fragwürdigen Informationen ist eine andere.

BARTH: Ja. Das ist der kritische Punkt. Informationsverarbeitung hat sich bisher viel zu sehr darauf versteift, Information zu generieren, zu speichern, zu verwalten und wiederzufinden. Jetzt muß es darum gehen, die Daten zu filtern.

CW: Demzufolge ist das die vorrangige Aufgabe für Informationstechnologen?

BARTH: Als Informatiker sehe ich persönlich drei Trends. Die erste und wichtigste Aufgabe ist die Vernetzung, dann die Gewinnung von Informationen aus Daten und schließlich Wissenssysteme. Die Datenverarbeitung hat sich aus der Zweiteilung von einem Prozessor und einem Speicher entwickelt. Es kam darauf an, Daten an der richtigen Stelle im Speicher abzulegen und eine Operation zum korrekten Zeitpunkt darauf anzuwenden. Doch heute sind Computersysteme ein Netz aus Speichern und Prozessoren. Daten liegen an unterschiedlichen Stellen, und Operationen werden irgendwo im Netz ausgeführt. Außerdem ist Vernetzung nicht nur ein Hardwarethema, bei dem es um Rechner und Glasfasern geht, sondern mittels der Objektorientierung auch ein Paradigma der Software. Hier interagieren auch autonome Kapseln, die aus Daten und Methoden bestehen, indem sie Nachrichten austauschen.

CW: Die Gewinnung von Informationen aus Daten...

BARTH: ...schließt an das an, was ich bereits andeutete. Wir werden von Daten überschwemmt, und es geht darum, die entscheidungsrelevanten Informationen mittels Computer zu extrahieren. Die dafür notwendigen Techniken finden sich im Data-Warehousing und Data-Mining.

Nehmen Sie die Bertelsmann-Buchclubs, die früher sehr populär waren. Als Haken daran erwies sich, daß man in regelmäßigen Abständen Artikel bestellen mußte und die Neuerscheinungen per Katalog zugesandt bekam. Ich bin aus dem Club ausgetreten, weil mir die Suche im Katalog zu aufwendig war. Heute wertet Bertelsmann die früheren Bestellungen aus und sendet den Kunden nur noch Neuigkeiten zu, die mit den erkannten Vorlieben korrespondieren.

CW: Wissensbasierte Systeme sind seit Ende der 80er Jahre im Gespräch. Wieso halten Sie sie noch immer für ein aktuelles Thema der Informatik?

BARTH: Früher hießen sie auch Expertensysteme. Damit wurde der Eindruck erweckt, daß der Computer menschliches Fachwissen umfassend und tiefgehend nachbilden könnte. Tatsächlich besteht ein wissensbasiertes System aus zwei Komponenten: einer Wissensbasis und Schlußfolgerungsmechanismen, auch Inferenzmaschine genannt. Damit ist ein Rechner in der Lage, in ausgewählten Bereichen Schlüsse zu ziehen, Analogien, Verallgemeinerungen und Spezialisierungen zu erkennen. Eine Bank benötigt etwa eine solches System zur Risikobewertung. Im Vergleich mit der Vergangenheit lassen sich künftige Entwicklungen prognostizieren: Wie wird sich der Aktienmarkt verhalten oder ein bestimmter Kurs?

CW: Lassen sich auch die zwei anderen Trends Vernetzung und Wissensextraktion auf vorrangige Aufgaben in der Bank übertragen?

BARTH: Wie alle Banken zeichnen wir jede Transaktion auf und führen Bestände in Terabyte-Ausmaßen. Da stecken im Prinzip alle von uns benötigten Informationen drin. Kauft ein Kunde Aktien, und wenn ja, riskante, oder ist er ein eher traditioneller Anleger mit überschaubaren monatlichen Investitionen? Nur wenn wir das Kundeninteresse erkannt haben, kann die Bank etwa bei Bekanntwerden von Neuemissionen ein attraktives Angebot unterbreiten. Das verstehe ich unter dem Herausfiltern von entscheidungsrelevanten Informationen.

CW: Ihre Ausführungen weisen darauf hin, daß die drei genannten Trends und Aufgaben der IT auch für die Dresdner Bank gelten.

BARTH: Ja. Als ich mich im April dieses Jahres beim Aufsichtsrat vorgestellt habe, präsentierte ich genau diese drei Trends mit den skizzierten Beispielen. Offensichtlich hält der Aufsichtsrat sie ebenfalls für zukunftsträchtig, sonst hätte er keinen IT-Vorstandsbereich geschaffen und mich dafür berufen.

CW: Heißt das, Sie setzen in den drei IT-Bereichen Projekte auf?

BARTH: Ja. Leider kann ich Ihnen nichts Genaueres erzählen, da uns diese Engagements hoffentlich Wettbewerbsvorteile einbringen.

CW: Gilt das auch für vernetzte Systeme und objektorientierte Programmierung?

BARTH: Schon vor zwei Jahren stellte sich ein Unternehmen ein Armutszeugnis in Sachen IT aus, wenn es Objektorientierung als isoliertes Phänomen betrachtete. Hier im Haus gab es bereits vor meinem Arbeitsantritt einen Bereich "Moderne Software-Entwicklung", in dem Objektorientierung und auch darüber hinausgehende IT-Konzepte ausprobiert wurden.

CW: Ist das Antesten neuer Technologie stets mit aktuellen Aufgaben verknüpft, oder leistet sich die Bank Forschungsprojekte?

BARTH: Bis jetzt gibt es so etwas in ausgeprägter Form noch nicht, aber das war eine Forderung in meiner Präsentation vor dem Aufsichtsrat: Wir brauchen Leute, die sich mit neuartigen Themen befassen können. Diese dürfen nicht in den Alltag eingebunden sein und sie sollen ohne den Druck arbeiten können, etwas fertigstellen zu müssen, das unmittelbar ins Geschäft übernommen wird.

CW: Im allgemeinen wandert der größte Teil des IT-Budgets in die Pflege von Altsystemen.

BARTH: Das ändert sich hoffentlich. Ich werde daran arbeiten, daß sich das bei uns wandelt.

CW: Wieviel Prozent wendet die Dresdner Bank für die Wartung, Anpassung und Fehlerbeseitigung in vorhandenen Systemen auf?

BARTH: Wohl mehr als die Hälfte.

Der Verein

Die Gesellschaft für Informatik (GI) e.V. gründete sich vor 30 Jahren in Bonn als gemeinnütziger Verein. Heute zählt die GI rund 21 200 Mitglieder, davon studieren noch rund 2000 Personen. Organisiert ist die Gesellschaft in 200 Fachgruppen, die sich dem wissenschaftlichen Diskurs über technische Informatik, künstliche Intelligenz und Softwaretechnologie widmen. Die GI gibt Empfehlungen für Hochschulstudiengänge einschließlich der Lehrerausbildung. Kürzlich fand in Paderborn die 29. Jahrestagung statt, zu der sich rund 560 Teilnehmer einfanden.