Jules Verne kontra George Orwell:

Gewerkschaften streben Industriekontrolle an

01.02.1980

BRÜSSEL (to) - Einfluß auf die Einführung technologischer Neuerungen zu nehmen, beansprucht der Europäische Metallgewerkschaftsbund in der Gemeinschaft (EMB), Brüssel. In allen EG-Mitgliedsstaaten sollen dahingehende gesetzliche und tarifvertragliche Festlegungen erarbeitet werden. Ein EMB-Pressesprecher begründet diese Forderung damit, daß die industrielle Entwicklung und das Bestreben nach Rationalisierung auf lange Sicht negative Auswirkungen nicht nur auf die Arbeitsmarktlage, sondern ganz allgemein auf die relative Position der Volkswirtschaft im internationalen Vergleich zeitigen wird.

Hauptthema der gewerkschaftlichen Beratungen bildet die Arbeitsmarktlage jetzt und in Zukunft sowie das Niveau der Arbeitsplätze. Es bestehe die Gefahr, behaupten die Gewerkschaftler, daß bei unkontrollierter Mikroelektronik-Anwendung, zumindest kurzfristig betrachtet, keine Lösung für Arbeitsplatzentwertung und -wegfall gefunden werden kann. "Daß der Service-Sektor nicht, wie von der Industrie propagiert, all das Personal 'aufsaugen' kann, das seinen Job in der Industrie verloren hat, sieht man deutlich in den USA", argumentiert Hans Fluger, dänischer Vizegeneralsekretär der EMB. "Sicher ist das zum Großteil ein Ausbildungsproblem, aber auch ein Problem der Gesellschaftsumformung. Heutzutage weiß noch niemand, wie neue Arbeitskräfte im Dienstleistungsgewerbe zu beschäftigen wären."

Ihre Aufgabe sehen die Gewerkschaften nun darin, den Arbeitnehmer "gegen den Verlust von Arbeitsplätzen, die Abqualifizierung und Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen und gegen den Mißbrauch der gespeicherten persönlichen Daten zu schützen". Fluger stellt allerdings klar: "Wir begrüßen neue Technologien. Wir sehen auch, daß diese ganz neue Möglichkeiten für die Beschäftigten schaffen könnten, das bedeutet sehr viel interessantere Aufgaben. Wir möchten nur die Evolutionsgeschwindigkeit beeinflussen können, da durch ein Übereilen sehr problematische Effekte auftreten können."

Der EMB-Vizegeneralsekretär erwähnt in diesem Zusammenhang die mikrogesteuerten Werkzeugmaschinen. Er bezweifelt nicht den hohen Nutzenfaktor dieser Instrumente - insbesondere gefährliche Arbeiten können maschinell erledigt werden -, gibt jedoch zu bedenken, daß diese Geräte hauptsächlich in der Dritten Welt produziert würden.

Fluger: "Wir schlittern unbemerkt in eine Abhängigkeit von Importländern, die sich auf lange Frist gegen uns richten kann." Es lasse sich zwar leicht ein Jules-Verne-Bild der zukünftigen Gesellschaft entwerfen, das bedeute jedoch, daß man die Augen vor der Realität verschließe. "Die Situation ist lächerlich", ereifert sich Fluger, "letztlich fließen 75 Prozent der Systemanschaffungskosten von Europa in andere Kontinente. Wenn amerikanische Hersteller wie IBM oder Texas Instruments erst einmal eine Monopolstellung in Europa erringen können, diktieren sie auch unsere Wirtschaft."

Einiges versprechen sich die Mitglieder der EMB offenbar von den Bestrebungen der Cii Honeywell Bull, gemeinsam mit ICL und Siemens ins Gespräch zu kommen (CW 1-2/80, Front). Auch der Initiative, die man von EG-Seite ergriffen hat, wird große Bedeutung beigemessen: EG-Minister Etienne Davignon versucht nämlich, beginnend mit der Telematik, sektorweise politische Richtlinien für die innereuropäische DV-Wirtschaft zu finden. Welche Konsequenzen die Industrie dann letztlich aus diesen Vorgaben ziehen wird, erscheint dem Dänen allerding noch sehr fragwürdig.