Geschäftsprozesse optimieren/Business Activity Monitoring im Trend

Geschäftsprozess-Management zum Zweiten

16.08.2002
In Zeiten wirtschaftlicher Zwänge durchforsten Firmen sämtliche Aktivitäten und Abläufe nach Optimierungspotenzialen. Ein umfassendes Geschäftsprozess-Management, das neben Analyse und Design nun auch verstärkt Beobachtung und Kontrolle von Prozessen einschließt, wird zum zentralen Wettbewerbsfaktor. Von Heidrun Haug*

"90 Prozent der US-Manager kennen die Geschäftsprozesse in ihren Unternehmen nicht", behauptet Jim Sinur, IT-Markt-Analyst für Business Process Analysis bei der Gartner Group. In den USA werde einfach zu wenig geplant. Dabei ließe sich seiner Erfahrung nach allein durch Erfassen und Aufzeichnen der Abläufe ein Sparpotenzial von bis zu zehn Prozent erschließen.

Dies zeigte sich vor kurzem bei der Wochenzeitung "Die Zeit", die ihren kompletten Anzeigenprozess analysierte und damit wesentliche Rationalisierungspotenziale aufdeckte. Die Neugestaltung des Prozesses, der zuvor bei einem externen Dienstleister angesiedelt war, reduzierte die einzelnen Arbeitsschritte um die Hälfte und erhöhte die wertschöpfenden Tätigkeiten innerhalb der Anzeigenabteilung von 30 auf 70 Prozent. Der extrem verschlankte Prozess führte nicht nur dazu, dass sämtliche bisher outgesourcten Tätigkeiten wieder intern durchgeführt werden, sondern sorgte sogar dafür, dass jeder fünfte Mitarbeiter andere Aufgaben übernehmen konnte.

Die Prozessbeherrschung ist nach Einschätzung von Professor August-Wilhelm Scheer der Schlüssel zu Wettbewerbsvorteilen - in allen Bereichen und Wirtschaftszweigen. Was mit einer hohen Prozesskompetenz erreicht werden kann, zeige sich seit Jahrzehnten vor allem in Industrieunternehmen. "Die mengen-, zeit-, qualitäts- und kostengerechte Fertigung komplexer Erzeugnisse wie eines Automobils ist nur möglich, wenn der Ablauf eines Fertigungsprozesses genau beschrieben und die zu vollziehenden Fertigungsschritte minutiös geplant sind", erklärt der IT-Vordenker, der mit seinem Konzept für das Geschäftsprozess-Management international bekannt geworden ist. Die Prozessbetrachtung weite sich auf Grund der reduzierten Fertigungstiefe und zeitkritischen Just-in-Time-Beziehungen zunehmend auf die Logistik und angesichts des Innovationstempos auch auf den Bereich Forschung und Entwicklung (FuE) aus.

Geschäftsprozesse als Kernkompetenz

Selbst Dienstleistungsunternehmen beschäftigen sich nach Beobachtung des Saarbrücker Wirtschaftsinformatikers und Inhabers der Firma IDS Scheer immer mehr mit der Dokumentation ihrer Geschäftsprozesse und entwickeln für die Bankenwelt bereits Visionen von einer "Kreditfabrik", in der die Kreditbearbeitung quasi industriell nach Prozessmodellen abläuft. Geschäftsprozesse werden offenbar zur Kernkompetenz des operativen Managements.

So nutzt beispielsweise das Schweizer Finanzinstitut UBS den Prozessansatz, um die Kundenzufriedenheit zu erhöhen. Im Privat- und Firmenkundengeschäft wurden 500 Geschäftsprozesse dokumentiert, um Kundenanfragen schneller bearbeiten zu können. Eine wesentliche Aufgabe dabei ist die Wiederverwendung bereits identifizierter Prozesse in neuen Produkten und Services. "Allerdings genügt die alleinige Darstellung von Prozessen nicht", sagt Projektleiter Markus Frey. "Letztendlich geht es doch darum, Prozesse effektiv und effizient zu führen." Dies kann aber nur dann stattfinden, wenn die im Rahmen der End-to-End-Sicht anfallenden Prozessmodelle der verschiedenen Bereiche aufeinander abgestimmt sind. So verfügt beispielsweise jedes Bankprodukt über Kundenberatungsprozesse, die in Teilabschnitten Parallelen aufweisen. "Wenn diese Detailschritte die identischen IT-Routinen nutzen, drückt sich das unmittelbar in einem geringeren Entwicklungsaufwand aus", ist Frey überzeugt.

Bei der Prozessbeherrschung kann die Dienstleistungsbranche viel von der Industrie lernen. So ermöglicht die in der Fertigung bekannte Komponentenstruktur, der eine Trennung von Produkt- und Prozessbeschreibung zu Grunde liegt, eine erhebliche Reduktion in der Beschreibung der Prozesskomplexität und gleichzeitig eine Erhöhung der Wiederverwendbarkeit von Prozessteilen. In der Folge lassen sich Produktvarianten schneller und kostengünstiger erstellen.

Grundlage der Kostenkalkulation

Die Beschreibung von Geschäftsprozessen kann darüber hinaus als Grundlage für eine effiziente Kostenkalkulation, für ISO-9000-Zertifizierungen und zur Implementierung von Informationssystemen dienen, die - bildlich gesprochen - die Ausführungsmaschinen der Prozesse sind.

Die wachsende Bedeutung der Prozesskompetenz wird bestätigt durch die Perspektiven, die das Marktforschungsunternehmen Gartner kürzlich für das Marktsegment der Business-Process-Software veröffentlicht hat. Seit Anfang der 90er Jahre beobachtet das Team von Jim Sinur, Business-Process-Experte bei Gartner, die Entwicklungen auf dem Markt für entsprechende Software, der laut Sinur erst jetzt "so richtig in Fahrt kommt".

Bis 2005, so die jüngste Prognose, wird der Markt um jährlich 20 Prozent auf 700 Millionen Dollar wachsen. Für die Marktführer sollen sogar Steigerungsraten von 30 Prozent realistisch sein. Zur Goldmine könnte Geschäftsprozess-Management vor allem deshalb werden, weil die vielen nicht integrierten Geschäftsfunktionen einen wachsenden Koordinierungsaufwand über IT-Systeme - auch jenseits der eigenen Unternehmensgrenzen - erfordern.

Nachdem der Markt nach Abklingen der ersten Reengineering-Phase eine Atempause eingelegt hatte, zieht er, will man der Analyse von Gartner folgen, jetzt wieder an. Vor allem aus dem Management erhalten die Marktforscher eine von Tag zu Tag anwachsende Anzahl von Anfragen zum Thema Geschäftsprozess-Management.

Verbesserung der Interaktion

Der amerikanische IT-Prophet Michael Hammer, der Anfang der 90er Jahre mit dem Bestseller "Business Reengineering - Die Radikalkur für das Unternehmen" den Prozessgedanken publikumswirksam vermarktet hat, fordert gar die zweite Welle der Prozessoptimierung ein. Nachdem die Unternehmen ihre betriebsinternen Abläufe inzwischen gestrafft haben, gehe es nun um die Verbesserung der Interaktion mit den anderen Marktakteuren. Teure Arbeitszeit werde verschwendet, weil die Geschäftsdaten in die Systeme der beteiligten Einheiten doppelt eingegeben werden müssen und beim Austausch von Informationen häufig Irrtümer und Missverständnisse auftreten. Und obendrein benötige man zum Managen der Schnittstellen Terminplaner und Koordinatoren. Hammer: "Bisher endet Effizienz an den Grenzen des Unternehmens."

Wenn jedes an einer Wertschöpfungskette beteiligte Unternehmen seine Geschäftsprozesse kennt, könnten auch komplexe und zeit- wie kostenkritische Vorgänge - etwa eine Bestell- oder Kreditabwicklung - schnell und wirtschaftlich vonstatten gehen. Doch bislang sehen die Unternehmen zum Beispiel in Supply-Chain-Management (SCM) oder Customer- Relationship-Management (CRM) in erster Linie ein technisches Problem und nicht das, was es laut Hammer eigentlich ist: "Eine Herausforderung für das Management, den integrierten Prozess effizient zu gestalten."

Der Technologiefokus hat Geschichte: Wegen ihrer modernen ERP-Systeme haben sich viele Kunden darauf verlassen, dass sie damit auch effiziente Abläufe implementieren, ohne die eigenen Abläufe zu analysieren. Jüngstes Beispiel sind die häufig übers Knie gebrochenen E-Business-Initiativen, an deren Folgen so manche IT-Abteilung heute leidet: Weite Teile des Budgets und ihrer personellen Ressourcen werden für die Koordination und Organisation nicht integrierter Geschäftsabläufe belastet.

Mit Enterprise Application Integration (EAI) und Web-Services entwickeln sich Prozessmodelle zu Blaupausen, welche die Montage der Komponenten zu einem integrierten System gewährleisten. Gartner-Mann Sinur erwartet, dass das Funktionsspektrum der klassischen Prozessoptimierungswerkzeuge künftig von den typischen Aufgaben der Modellierung und Analyse auch die Überwachung von Prozessen bis hin zur Simulation von Prozessänderungen reicht.

Die Firma Loyality Partner, die das Bonus-Punkte-Kartensystem "Payback" betreibt, hat bereits ein solches Prozess-Controlling institutionalisiert und überwacht Ablauf und Transaktion der Boni-Auszahlung mit Hilfe des Aris Process Performance Manager (PPM) an fünf unterschiedlichen Punkten. "Wir müssen nicht warten, bis der vollständige Prozess durchlaufen ist, sondern können sofort eingreifen, wenn einmal an einer bestimmten Stelle Verzögerungen auftreten", erläutert Martin Hermann, verantwortlich für das Quality Management (QM), die grundsätzliche Überlegung. So gewinne das Qualitäts-Management schnell einen Überblick über Fehler in den laufenden Prozessen. Die ist beim Payback-System, das schon mal 100 000 Auszahlungswünsche pro Woche verkraften muss, essenziell. Schließlich könne man es sich bei 17,5 Millionen Kartenbesitzern nicht erlauben, erst dann nach Fehlerursachen zu forschen, wenn in den monatlichen Reports die Folgen einer Fehlverarbeitung sichtbar werden.

Controlling der Prozesse

Auch die Westdeutsche Landesbank (West LB) sieht als Kernziel die konsequente Ausrichtung der Wertschöpfung auf externe und interne Kunden. Ein Weg, um diesen Ansatz dauerhaft zu verwirklichen und auf sich ändernde Abläufe schnell zu reagieren, ist für die West LB das Controlling der Prozesse: Bisherige Finanzkennzahlen ergänzt das Bankhaus künftig durch Prozesskennzahlen, die als Frühwarnsystem bei der Überwachung operativer Risiken, zur Verbesserung der Prozesstransparenz und zur Sicherumg der Prozessqualität dienen sollen.

Mit "Business Activity Monitoring" (BAM) kennzeichnet die Gartner Group diesen Megatrend im BPM-Markt. Die zugehörigen Werkzeuge sollen Unternehmen als Steuerungsinstrumente dienen, die kritische Prozesse in Real-time erfassen, analysieren und deren Effizienz und Tempo kontinuierlich verbessern. Unter Einbeziehung von Business Rule Engines und Analyse-Tools wird künftig durchgespielt, wie sich in Betracht gezogene Änderungen der Geschäftsprozesse auswirken würden. Ob diese Art der Unternehmensführung auf die ungeteilte Liebe der europäischen Manager stoßen wird, wagt Sinur nicht zu bewerten. Denn während amerikanische Manager nach dem Motto vorgingen "Bereit, zielen, feuern", macht er bei den Europäern die Vorgehensweise "Bereit, zielen, zielen, zielen..." aus. (bi)

*Heidrun Haug ist freie Journalistin in Tübingen.

Abb: Geschäftsprozessanalyse/Magischer Quadrant

Gartner prognostiziert eine Konsolidierung der Branche von derzeit etwa 30 auf 15 Anbieter im Jahr 2005. Im aktuellen "Magic Quadrant", der die Hersteller in Visionäre und Marktführer einteilt, liegt wie seit Jahren die Saarbrücker IDS Scheer AG mit dem System "Aris" in Führung, gefolgt unter anderem von Proforma. Unter den großen Anbietern hat sich vor allem Microsoft als "Challenger" nach vorne gearbeitet. Quelle: Gartner Research