IBM hält PC-Multiprozessor-Technologie für unangebracht

Geringes Anwenderinteresse und Mangel an Client-Server-Software

11.01.1991

MENLO PARK/MÜNCHEN (CW) - Die IBM ist nicht unbedingt ein Trendsetter: Während fast ausnahmslos alle bekannten Hardwarehersteller auf die Client-Server-Topologie als DV-Struktur der Zukunft setzen und mindestens ein Servermodell mit mehreren CPUs bieten, glaubt Big Blue, daß die Zeit für Multiprocessing noch nicht gekommen sei beziehungsweise bereits vorbei ist.

Mit der Vorstellung des nunmehr leistungsstärksten PS/2-Rechners - des Modells 95 - hatten die Armonker zwar gezeigt, daß auch sie dem Thema Serverarchitekturen verstärktes Interesse schenken würden. Die Leistungsspezifika des Ende Oktober 1990 präsentierten und auf der Comdex in Las Vegas ausgestellten PC-Systems deuten auf seine Marktpositionierung: Standardmäßig mit 8 MB Arbeitsspeicher, dem neuen XGA-Grafikprozessor, einer SCSI-Schnittstelle für den Anschluß von bis zu sieben Peripheriegeräten und einer SCSI-Erweiterungseinheit ausgerüstet, ist das Einsatzgebiet des IBM-Rechners für Serverumgebungen vordefiniert.

Im Gegensatz jedoch zu Herstellern wie Compaq, DEC, Netframe, AT&T, NCR, Tricord und Wyse, die auf CISC-Basis Mehrprozessor-Maschinen feilbieten, oder Multi-CPU-Rechnern in RISC-Technologie wie die von Solbourne, ICL oder Concurrent folgt die IBM nicht den Zeichen der Zeit. Entgegen ursprünglichen Verlautbarungen, es sei in näherer Zukunft auch bei Big Blue mit PCs zu rechnen, die mit mehreren Prozessoren bestückt sind, winkt man bei diesem Thema jetzt in Armonk offensichtlich ab.

Weder stünde derzeit ein ausreichendes Angebot an Software für Multiprozessor-Rechner zur Verfügung, noch habe man bislang bei Kunden ein besonderes Interesse an diesen PC-Muskelprotzen erkennen können. Nach Bob Carberry, Assistant General Manager für Systemtechnologie der IBM-PC-Systeme, spräche das Marktgeschehen für sich: "Wir sehen einfach keine Nachfrage von Kunden und Anwendern nach diesen Systemen, die das Angebot einer mit mehreren CPUs ausgestatteten Maschine rechtfertigen würde." Damit bescheidet man sich beim DV-Marktführer vorerst mit ausschließlich durch Intel vorgegebene Technologiesprünge - dies, obwohl die proprietäre Mikrokanal-Bus-Architektur bis zu 16 CPUs unterstützt und somit die Option für extrem leistungsstarke PC-Server-Systeme gegeben ist.

PC-Server setzen AS/400 unter Druck

Big Blues Zurückhaltung scheint denn auch eher auf ein internes Problem hinzudeuten: Von der Anwendern offerierten Möglichkeit, leistungsstarke IBM-Server auf PS/2-Basis mit mehreren CPUs zu kaufen, dürften vor allem die Verkaufszahlen des Midrange-Rechners AS/400 betroffen sein. Wohl wegen solcher Kannibalismuseffekte klingt Big Blues technologisches Zukunftsszenario eher konservativ und stützen sich seine PCs auch in Zukunft auf die Rechenleistung lediglich einer CPU.

Carberry glaubt sogar, daß die Zeiten bereits vorbei sind, wo Multiprozessor-Lösungen Auswege für rechenleistungsorientierte Anwender aufzuzeigen schienen. "Multiprocessing hat möglicherweise zu Zeiten eine Berechtigung gehabt, da die technologische Entwicklung nicht in solch gewaltigen Sprüngen fortschritt, wie dies heute der Fall ist." Mittlerweile sei Intel jedoch in der Lage, die Leistungen ihrer Prozessoren etwa alle 18 Monate zu verdoppeln. Da darüber hinaus der Anwender von IBM-PCs aufgrund deren modularer Bauweise jeweils leistungsfähigere Prozessorkarten in den Rechner einbauen könne, sei dem Bedürfnis nach mehr Power ausreichend Genüge getan. Einige Kunden scheinen Big Blues Argumentation zu teilen: Solange etwa OS/2 nicht symmetrisches Multiprocessing unterstütze oder eine entsprechende proprietäre AIX-Version auf dem Markt verfügbar sei, könne man dieses Thema getrost vergessen. Andere bemängeln, daß auch mit der neuesten LAN-Manager-Version von Microsoft die Fähigkeiten verteilter und damit erhöhter Rechenleistung mehrerer CPUs ungenügend genutzt würden.

Wieder ein anderer Anwender wartet mit dem Kauf von Mehrprozessor-Systemen erst einmal ab, bis auf dem Markt genügend Anwendungssoftware für Client-Server-Umgebungen angeboten wird. In der Tat hapert es bei der Zahl der Applikationen für verteilte Datenverarbeitungskonzepte noch. Sowohl auf Betriebssystem-Ebene als auch bei der Hardware haben die Entwickler jedoch große Fortschritte gemacht (vergleiche CW Nr. 49 vom 7. Dezember 1990, Seite 23 "Client-Server-Architekturen..." und CW Nr. 50 vom 14. Dezember 1990, Seite 26), so daß bezweifelt werden mag, ob die IBM mit ihrer Einschätzung der Technologieentwicklung bei PC-Systemen richtig liegt.