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20.06.1980

(SZ) Die Staatscomputer von Baden-Württemberg müssen demnächst die Groß- und Kleinschreibung sowie die Höflichkeit lernen. "Sehr geehrte(r) Frau/Herr" müssen sie schreiben und "Mit vorzüglicher Hochachtung", wenn nicht gar "Mit freundlichen Grüßen" Auch dürfen sie dem Staatsbürger nicht mehr einfach eine Wolke von Chiffren ins Gesicht blasen, wenn er mit zitternden Händen seinen Steuerbescheid öffnet; sie müssen ihm in dieser Stunde der Wahrheit mit Klarheit dienen. Ministerpräsident Späth und sein Kabinett folgen bei diesem Programm den Vorschlägen einer "Projektgruppe Bürgernähe der Verwaltung", die 18 Monate an einem 16-Punkte-Katalog zur Reform des behördlichen Antrags- und Bescheidwesens gearbeitet hat. Außerdem hat die Projektgruppe 90 Gesetze und 308 Rechtsverordnungen als überflüssig erkannt; sie wurden bereits außer Kraft gesetzt.

Späth will andere Bundesländer veranlassen, bei dem Unternehmen mitzuziehen. Es seien nämlich einige Auswüchse der Verwaltungseffizienz zu kappen; die Rationalisierung und Perfektionierung sei oft zu Lasten des Bürgers überweben worden. Das ist die reine Wahrheit. Auch der Bundeskanzler hat sich schon über die unverständliche Rechnung der Stadtwerke beschwert. Es zeigt sich immer deutlicher, daß der Computer, dieser enorm schnelle und ebenso dumme Datenfresser, nicht sattzubekommen ist, wenn nicht das ganze Volk ihm vorkaut. Deshalb malen wir achtzehnstellige Zahlen in Bankformulare und geben im Briefwechsel mit der Haftpflichtversicherung vier Buchstaben und fünf Ziffernkolonnen an, weil geschrieben steht "Bei Antwort bitte unbedingt mitteilen".

Es ist schön, daß die Stuttgarter Regierung jetzt dem Bürger die Entschlüsselung der EDV-Babysprache erleichtern will. Mit barschen Lebensbitten wie "Zahlenschlüssel siehe Rückseite" soll es ein Ende haben. Alle Formulare werden übersichtlich, gedanklich richtig gegliedert, optisch einleuchtend. Alle Bescheide werden logisch aufgebaut, unverschlüsselt erläutert, Punkt für Punkt dem dazugehörigen Antrag entsprechend formuliert, begreiflich - und das alles mit nur 200 000 Mark Mehrkosten für Papier. Das Ausmaß der Reform, die fast den Namen Revolution verdiente, zeigt sich besonders in einem: Die Formulare werden so gestaltet, daß sie auch handschriftlich ausgefüllt werden können. In Worten: Handschriftlich! Es handelt sich danach um nichts Geringeres als um die Wiederkehr des Individuums im Verwaltungsgeschehen. Wenn das so weitergeht, ist nicht mehr auszuschließen, daß eines Tages der Mensch wahrhaftig wieder im Mittelpunkt steht - und stört.

Entnommen: Süddeutsche Zeitung vom 13. Mai 1980, Streiflicht, Seite 1