Gasag-Entstörer kommen schneller

25.07.2005
Die Berliner Gaswerke AG (Gasag) hat eine durchgängige IT-Lösung für ihren Entstörungsdienst eingeführt und betreibt mittlerweile eine der modernsten Meldestellen Europas.

Wenn bei der zentralen Meldestelle des Berliner Energieversorgers das Telefon klingelt, riecht es am anderen Ende der Leitung meist nach Gas. Dass es dann unter Umständen auf jede Minute ankommt, liegt auf der Hand. Das Regelwerk der Deutschen Ver- einigung des Gas- und Wasserfaches (e.V.) (DVGW) schreibt seit Mitte 2004 vor, dass die Arbeiten zur Behebung einer Störung in der Gasversorgung in bebautem Gebiet innerhalb von 30 Minuten nach Eingang der Meldung aufgenommen sein müssen.

Best Practices

• Eindeutige Projektorganisation mit klaren Verantwortlichkeiten auf allen Ebenen - sowohl intern als auch bei den externen Partnern;

• Pflichtenheft schlank halten, um Flexibilität zu wahren;

• Betriebsrat und Mitarbeiter von Anfang an in das Vorhaben einbinden und sich deren Unterstützung sichern;

• offene und klare Kommunikation des Projektziels;

• Projekt nicht aus branchenspezifischer Sicht angehen, sondern durch die Sicherheitsbrille schauen.

Steckbrief

Projektart: Entwicklung und Implementierung einer integrierten durchgängigen IT-Lösung zur Unterstützung des gesamten Entstörprozesses.

Branche: Energieversorger.

Zeitrahmen: Februar 2004 bis Mai 2005.

Stand heute: läuft produktiv.

Aufwand: rund eine Million Euro.

Produkte: Icad (Intergraph); Cover (PPS/EDV).

Dienstleister: Condat AG als Generalunternehmer; branchenspezifische Anpassung des Leitsystems in Eigenregie.

Umfang: für die Meldestelle und die 30 Entstörfahrzeuge.

Ergebnis: Einhaltung der "30-Minuten-Regel" der DVGW; leichtere Disposition der Techniker; erhöhte Effizienz beim Personaleinsatz in der Meldestelle; hohe Transparenz der Teilprozesse, Qualitätssicherung der Abläufe.

Herausforderung: Entwicklung von Kommunikationsschnittstellen zu GIF-Systemen, zur Datenbank und zu SAP-ISU sowie SAP-PM.

Mehr Tempo gefragt

"Das ist äußerst knapp und ohne entsprechende Softwareunterstützung nicht zu realisieren", erläutert Stefan Boy, Leiter der Meldestelle und des Entstörungsdiensts in der Gasag. Bei Europas größtem kommunalem Energieversorger, der 700000 Kunden und ein Rohrnetz von rund 6800 Kilometern betreut, gehen jährlich gut 25000 telefonische Meldungen ein. Rund ein Drittel davon erweist sich in der Regel als echte Störfälle, gegen die innerhalb von Minuten gehandelt werden muss.

Eine Analyse der Reaktionsgeschwindigkeit ergab, dass das Störungs-Management der Berliner den neuen Anforderungen des branchenspezifischen Regelwerks nicht flächendeckend gewachsen war. "Mit dem ehemaligen, nicht standardisierten Verfahren ließen sich Störfälle nicht schnell genug abwickeln", so Boy. Allerdings sei man dazu bis zur Einführung der 30-Minuten-Regel auch nicht verpflichtet gewesen, stellt er klar.

Den ehemals dezentral organisierten Entstörungsdienst betrieb die Gasag an mehreren, aus der Historie heraus gewachsenen Standorten im Stadtgebiet Berlin. Von dort aus wurde nach Meldungseingang derjenige Techniker, der zuletzt in der betreffenden Gegend zu tun hatte, benachrichtigt. Anders als heute waren die Entstörkräfte damals auch noch in andere Tätigkeiten eingebunden, was die Disposition zusätzlich erschwerte. Da das Vorgängersystem der Gasag noch keine durchgängige nonverbale Kommunikation erlaubte, erfolgte die Verständigung zwischen Meldestelle und Entstörungsaußendienst ausschließlich via Telefon. Die jeweils vom System angegebenen Uhrzeiten wurden manuell eingetragen. "Kommt es an dieser Stelle zu einem Zahlendreher, stimmt die gesamte Prozesskette nicht mehr", beschreibt Boy eine Fehlerquelle des alten Verfahrens.

Bruch in der Dokumentation

Die Auftragsabschlussberichte wurden rein auf Papier erstellt. Das erschwerte oder verhinderte die mit dem DVGW-Arbeitsblatt "GW1200" ebenfalls geforderte, lückenlose Dokumentation und Archivierung der zur Störungsbehebung ergriffenen Maßnahmen. So hatten die Techniker nach getaner Arbeit ein standardisiertes, mit Paginiernummer versehenes Protokollformular per Hand auszufüllen, das dann in Papierform abgelegt, also nicht in das IT-System eingegeben und dort vorgehalten wurde. Diesen Medienbruch in der Dokumentation galt es zu beseitigen.

Um die Effizienz im Störungs-Management zu erhöhen, beschloss die Gasag zunächst, ihre Meldestelle, deren Aufgaben zuvor die rund um die Uhr besetzte Netzleitwarte des Energieversorgers zusätzlich übernommen hatte, mit dem operativen Entstörungsdienst zu einer eigenen Einheit zusammenzufassen. Boy ist heute Chef des neuen, insgesamt 90 Mitarbeiter starken Bereichs und zeichnet als solcher für den gesamten Entstörprozess verantwortlich. "Um unserer großen Versorgungsaufgabe gerecht zu werden, reichte es aber nicht, für die passende Organisation und qualifiziertes Personal zu sorgen", erklärt er. Notwendig war ein hochwertiges durchgängiges IT-System.

Gesagt, getan: Im Frühjahr 2004 machte sich der Energieversorger im Team mit dem Systemhaus Condat AG an die Entwicklung eines Softwaresystems, das es ermöglichen sollte, mit folgendem Zeitaufwand auszukommen:

- 90 Sekunden für das Gespräch mit dem Anrufer bis zur Alarmierung des Entstörungsdienstes;

- 90 Sekunden zum Ausrücken des Entstörungsdienstes;

- 25 Minuten für die Fahrt zum Einsatzort;

- 120 Sekunden Zeitpuffer.

Heute kann die Gasag die Anforderungen der DVGW erfüllen. Seit Mai dieses Jahres läuft die Software "Neue zentrale Meldestelle" im Produktivbetrieb. Dabei handelt es sich um eine datenbankgestützte integrierte Lösung, die auf dem Einsatzleitsystem "I/Cad" (Computer added Dispatch), einem an die Bedürfnisse der Gasag angepassten Standardprodukt von Intergraph, basiert. Sie unterstützt den Gesamtablauf des Entstörungsdienstes - von der Annahme der Meldungen über die Disposition der Entstörungskräfte bis hin zur Rückmeldung erledigter Aufträge durch die Techniker. Eine GIF-Komponente (Graphics Interchange Format) im zentralen Einsatzleitsystem stellt dabei den Einsatzort und die Positionen der Gasag-Fahrzeuge sowie das Rohrnetz auf einer digitalen Karte dar. Auch die Historie der am Störungsort bereits erfolgten Arbeiten lässt sich damit einsehen. Die mobile Kommunikation zwischen der Meldestelle und den Einsatzfahrzeugen wurde mit dem Softwaresystem "Cover" der PPS/ EDV GmbH realisiert.

Der heutige Ablauf

Geht heute eine Störmeldung in der Zentrale ein, wird der Anrufer von einem Mitarbeiter umgehend nach einem standardisierten Abfrageprotokoll interviewt. Anhand der Antworten kategorisiert das System den Vorfall und stellt einen entsprechenden Regiefahrplan mit hinterlegter Maßnahmenliste zur Verfügung: Nach Eingabe des Störungsorts erfolgt zunächst die Ortung aller 30 Gasag-Entstörfahrzeuge im Stadtgebiet, dann errechnet das Einsatzleitsystem anhand der Straßenverbindungen die kürzeste Strecke zum Störungsort und schlägt eine Liste der von ihrer Position her geeigneten Fahrzeuge vor. Ist der Mitarbeiter mit der Auswahl einverstanden, klickt er auf "ok", woraufhin die jeweiligen Entstörkräfte automatisch benachrichtigt werden. Der gesamte Vorgang muss innerhalb von 90 Sekunden abgeschlossen sein.

Dabei wird jede einzelne Maßnahme fristenüberwacht: "Wenn das System bei einem Vorgang die Benachrichtigung etwa von Feuerwehr oder Notarzt vorsieht, wird der Mitarbeiter nach 60 Sekunden gewarnt, falls dies noch nicht erfolgt ist", führt Boy aus.

Alarm im Push-Verfahren

Ein Entstörer wird über drei verschiedene, voneinander unabhängige Medien benachrichtigt - jeweils nonverbal über Mobilfunk und im Push-Verfahren: über GPRS auf das Navigationssystem im Fahrzeug, über einen Anruf auf sein GSM-Handy und über eine Nachricht an seinen Pager. Damit ist gewährleistet, dass der Einsatzruf seinen Adressaten auch außerhalb des Fahrzeugs oder in GSM-Funklöchern erreicht. Darüber hinaus wird im Bordrechner des Fahrzeugs, einem Standard-Pentium-PC mit 19-Zoll-Flachbildschirm, automatisch das Bestandsplanwerk mit den Zielkoordinaten des Einsatzorts aufgerufen. Auf diese Weise erhält der Techniker Einblick in den Verlauf der Gasleitungen vor Ort und kann sich dann umgehend auf den Weg machen. Parallel dazu gibt ein ebenfalls im Fahrzeug befindlicher Drucker einen Einsatzbogen mit allen auftragsrelevanten Daten - Name und Adresse des Meldenden sowie die vom System kategorisierte Störungsbeschreibung - aus.

Hat der Außendienstler seinen Auftrag beendet, dokumentiert er seine Tätigkeit im "elektronischen Einsatzbogen" auf dem Bord-PC seines Fahrzeugs. Die im Arbeitsbericht erfassten Details zum Störfall wie Ursache, verbrauchte Materialien und benötigte Arbeitszeit werden via Mobilfunk an die Zentrale geschickt, dort in einer Datenbank gespeichert, noch einmal kontrolliert und dann zur weiteren Verarbeitung an das betriebliche SAP-System gesandt.

Eine direkte Anbindung des Entstörungsdiensts an das ERP-System besteht derzeit nicht. "Im Prinzip gibt es noch kein Übertragungsmedium, das in der Fläche so zuverlässig und mit einer ausreichend hohen Übertragungsrate zur Verfügung steht, dass man online auf SAP-Software zugreifen könnte", begründet Boy die Entscheidung.

Nonverbaler Statusversand

Mussten die Techniker früher in der Meldestelle anrufen, um etwa den Abschluss eines Auftrags kundzutun, wird die Rückmeldung mittlerweile ausschließlich über den Versand von Statusmeldungen kommuniziert. Die Dokumentation der einzelnen Schritte "Auftrag übernommen", "Losgefahren", "Am Einsatzort eingetroffen" und "Auftrag abgeschlossen" erfolgt heute nur noch per Tastendruck. "Das muss so einfach sein", erläutert der Leiter des Entstörungsdiensts. "Wer bis zu den Knien im Sand versinkt, kann nicht mit einem Handheld, PDA oder Tablet-PC hantieren." Darüber hinaus ermögliche der nonverbale Statusversand einen gezielten Personaleinsatz in der Meldestelle und erleichtere die rasche Disposition der Entstörungskräfte.

Für die Koordination zwischen den einzelnen Komponenten des Gasag-Entstörungsdiensts sorgt eine Onboard-Unit im Fahrzeug. Die Funktion der Middleware übernimmt ein Kommunikations-Server in der Zentrale. Er ist an das Einsatzleitsystem angeschlossen und übermittelt die gesamte GPRS-Kommunikation an den Mobilfunkbetreiber.

Anfang März dieses Jahres, nach insgesamt 18 Monaten Projektlaufzeit, entließ die Gasag das neue System zunächst in den Probebetrieb. "Es ist vom ersten Tag an stabil gelaufen", freut sich Boy. Dank der mit der Lösung gewonnenen Transparenz und der Dokumentationstiefe sämtlicher Teilprozesse habe man die ursprünglich geplanten Abläufe seitdem bereits weiter verbessern können. Den finanziellen Aufwand des Projekts beziffert der Chef der Gasag-Meldestelle mit rund einer Million Euro.

Als größte Herausforderung bei der technischen Umsetzung des Projekts erwies sich laut Boy die Realisierung der erforderlichen Schnittstellen auf Kommunikationsebene: So galt es, das GIF-System, die Datenbank sowie die energiewirtschaftliche Branchenlösung SAP-ISU anzubinden und eine SAP-PM-Schnittstelle (Project Management) zu schaffen, um die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Bereichen zu ermöglichen.

Das Vorhaben stand wegen der DVGW-Vorschriften sehr unter hohem Termindruck, so dass parallel zur Umsetzung des neuen Meldestellenkonzepts im laufenden Betrieb bereits die Mitarbeiter geschult werden mussten. Möglich war dies laut Boy nicht zuletzt dank der eindeutigen, von sämtlichen Beteiligten genehmigten Projektorganisation mit klaren Verantwortlichkeiten - vom Auftraggeber über den externen Projektleiter bis hin zum Generalunternehmer. Als Erfolgsfaktor erachtet der Störungs-Manager außerdem die durch das schlanke Pflichtenheft gewonnene Flexibilität: "Viele Dinge haben wir erst während der Realisierung in Zusammenarbeit mit Condat und Intergraph geklärt. Das hat sich speziell in diesem Projekt sehr bewährt."

Neue Transparenz

Sollte heute die Behebung einer Störung trotz aller Vorkehrungen einmal nicht innerhalb von 30 Minuten beginnen, lässt sich die Ursache für den Zeitverzug mit Hilfe des Systems immerhin exakt analysieren. So viel Transparenz führt unter Umständen zu Berührungsängsten in der Belegschaft. Bei der Gasag sind sie jedoch nicht aufgekommen. Man habe sowohl die Mitarbeiter als auch die Arbeitnehmervertretung von Anfang an in das Projekt eingebunden und deren volle Unterstützung gehabt, berichtet Boy. So sei die Realisierungsphase zu 80 Prozent von der Meldestellen-Belegschaft getragen worden. "Man kann jede Maßnahme zum Nachteil des Mitarbeiters auslegen - die Hauptsache war aber, klar zu machen, dass wir heute im Schadensfall für den Mitarbeiter belegen können, dass er sich richtig verhalten hat."