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Gartner ruft das Real Time Enterprise aus

15.11.2002
Auf dem diesjährigen Gartner Symposium in Cannes stand das "Real Time Enterprise" im Mittelpunkt. Die Beschleunigung der Kernprozesse ist das Ziel dieser Idee, die sich laut Gartner weitgehend mit vorhandener Technik realisieren lässt.

CANNES (COMPUTERWOCHE) - Auf dem diesjährigen Gartner Symposium in Cannes stand das "Real Time Enterprise" im Mittelpunkt der Präsentationen. Die Beschleunigung der Kernprozesse bis hin zum "Echtzeitunternehmen" ist das Ziel dieser Idee, die IT- und Business-Interessen wieder annähern könnte. Solche agilen Unternehmen lassen sich laut Gartner weitgehend mit vorhandener Technik realisieren.

"Ich will die CD jetzt hören, sofort", ruft Mark Raskino in den Saal. "Wenn ich etwas im Web bestelle, habe ich keine Lust, drei Wochen darauf zu warten. Wenn Company A nicht sofort liefern kann, gehe ich eben zu Firma B." Ähnlich halten es, so der Gartner Research Director, nicht nur Privatkunden. Unternehmen seien ebenfalls immer weniger bereit, auf Produkte und Services zu warten. "Alles muss schnell gehen. Wir leben in einer Jetzt-Wirtschaft." Neben Preis und Qualität eines Produktes werde die Zeit zum Wettbewerbsfaktor. "In den westlichen Industrienationen ist Zeit wesentlicher knapper als Geld, deshalb zahlen Leute dafür, wenn sie etwas besonders schnell bekommen", versucht Raskino die Notwendigkeit für das Real Time Enterprise (RTE) zu erklären.

Kurzer Prozess

Das Ziel eines RTE lautet: Prozesszeit verkürzen. In einem Echtzeitunternehmen folgen idealerweise Bestellung und Auslieferung eines Produktes unmittelbar aufeinander. In fast allen Prozessen, erklärt Raskino, steckten überflüssige Zeitpolster. Dabei geht es Gartner nicht so sehr um die Zeit, die benötigt wird, um einzelne Arbeitsschritte zu erledigen, sonden um jene, die zwischen einem Input und der Reaktion darauf vergeht: Wie lange dauert es beispielsweise, bis auf eine Beschwerde mit einer den Kunden zufrieden stellenden Lösung reagiert wird? Gartners offizielle Definition lautet: Das Real Time Enterprise konkurriert, indem es aktuelle Informationen nutzt, um Verzögerungen im Management und der Ausführung seiner kritischen Geschäftsprozesse immer weiter zu reduzieren.

Ein weiteres Argument für die Beschleunigung von Prozessen - gerade in Zeiten von Enron und Worldcom - ist die Forderung nach immer größerer Transparenz der Unternehmen. Auf die Informationsbedürfnisse von Aktionären, Analysten, Presse und Aufsichtsbehörden gilt es, sofort zu reagieren. "Wer Wochen braucht, um die finanzielle Situation seines Unternehmens zu analysieren, setzt sich heute dem starken Verdacht aus, Zahlen zu manipulieren", erklärt Raskino. Außerdem ist ein Unternehmen umso effizienter, je schneller es falsche Abläufe und langsame Prozesse behebt.

RTE hilft IT, Vertrauen zu gewinnen

Darüber hinaus könne das RTE-Konzept auch der IT helfen, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Die IT-Funktion in Unternehmen muss, so Raskino weiter, der misstrauisch gewordenen Business-Seite konkrete Gründe liefern, warum es sich lohnt, noch eine eigene IT vorzuhalten oder gar neue Projekte aufzusetzen. Während die CEOs zurzeit des Internet-Booms noch glaubten, mit Hilfe von IT die Veränderungen zur New Economy bewältigen zu können, herrscht im Topmanagement heute große Skepsis bezüglich des Wertbeitrags (Business Value) von IT. Aus gutem Grund: In vielen Unternehmen hat es die IT lediglich geschafft, mit viel Geld die alte Infrastruktur, die alten Prozesse, Produkte und Strategien mit einer dünnen Web-Schicht zuzudecken.

Die CIOs bekommen mit RTE auf Umwegen die Chance, aus den E-Business-Technologien doch noch Kapital zu schlagen - allerdings nur dann, wenn Unternehmen bereit sind, tiefgreifende Veränderungen an ihren Geschäftsprozessen vorzunehmen. Die Kernfrage sei, wie sich diese Veränderungen auslösen lassen, was als Katalysator dienen kann. Die Antwort lautet Zeit: Geschwindigkeit wird das vorherrschende Thema in der "Jetzt-Wirtschaft". Veränderungen finden permanent statt - es gibt keine Perioden relativer Ruhe mehr. "Mit Strategie haben sich Manager früher alle zwei oder drei Jahre beschäftigt, heute müssen sie sich ständig damit auseinander setzen", warnt Raskino. Die Zeitfenster, in denen sich Geschäfte starten lassen, werden immer kürzer. Hatten Unternehmen früher noch Monate, einen neuen Markt mit einem neuen Produkt zu adressieren, stehen ihnen heute nur noch Wochen oder zum Beispiel im Finanzsektor sogar nur Tage zur Verfügung.

Zeiteinsparungen von bis zu 90 Prozent

Gartner glaubt, mit dem RTE-Konzept nach PC und Internet die "nächste große Idee" zu haben. Die Berater hoffen, RTE gebe Unternehmen einen neuen, ergebnisorientierten Fokus, der Business und IT wieder dazu bringt, gemeinsam an niedrigeren Kosten, besseren Services und mehr Transparenz zu arbeiten. "Zeit lässt sich ganz einfach messen. Zeitstempel finden sich in allen Applikationen, Datenbanken und Systemen. Durch RTE lassen sich konkrete Ziele setzen, die ganz konkrete Auswirkungen haben", frohlockt Raskino. CEOs könnten wieder nachvollziehbare und erreichbare Ziele vorgeben, wenn sie die drastische Verkürzung bestimmter Prozesse forderten, und die IT könne helfen, diese Reduktion zu erreichen. Dabei reichten Verkürzungen der kritischen Prozesse im einstelligen Prozentbereich nicht aus: "Jährliche Einsparungen von 30 bis 90

Prozent sind gefragt." Aufgrund solcher nachhaltigen und wiederholten Aufforderung zur Veränderung entstehe Kreativität und werde Technologie sinnvoll eingesetzt. Die Zeit als Katalysator habe einen entscheidenden Vorteil gegenüber Konzepten wie Kundenzufriedenheit oder Business Re-Engineering: "Das Konzept ist einfach genug, um es effektiv vermitteln zu können", glaubt Raskino.

Die Aufgaben der IT

Business und IT fallen dabei unterschiedliche Aufgaben zu. Während die Geschäftsseite vor allem die Prozesse identifizieren muss, die beschleunigt werden sollen, und die Ziele dafür setzen muss, lauten die wichtigsten Punkte für das IT-Management:

Aufzeichnen und Messen - die Verzögerungszeiten der Anwendungssysteme registrieren und feststellen, was es kostet, die Flaschenhälse zu beseitigen.

Mobilisieren und Ausbilden - die Mitarbeiter motivieren, Antwortzeiten zu verkürzen, und sie in Schlüsseltechnologien schulen.

Planung für Beweglichkeit - Entwickeln von Enterprise-Architekturen, mit denen sich schnell und flexibel auf Business-Anforderungen reagieren lässt.

Auf IT-Seite sind für das Echtzeitunternehmen kaum neue Technologien notwendig. Das meiste ist vorhanden und wurde schon während des Internet-Booms eingeführt - wenn auch nicht richtig ausgenutzt. Laut Gartner werden beispielsweise Identifizierungszeichen und Sensoren Auskunft über die Warenflüsse in der wirklichen Welt geben, während über das Web kontrolliert wird, was in der virtuellen Welt passiert. In Data Warehouses werden Daten gesammelt, und Business-Intelligence-Tools sortieren die Ereignisse nach Wichtig- und Dringlichkeit.

Kaum neue Technologien

Drahtlose Kommunikation, Instant Messaging sowie Lokalisierungs- und Präsenzservices helfen dabei, Antwortzeiten zu verkürzen. "Allein, dass Sie mit Instant Messaging im Unternehmen feststellen können, wie viele entscheidungsbefugte Personen anwesend sind, verkürzt die Zeit bis zur Entscheidung manchmal ganz erheblich", gibt Raskino ein simples Beispiel für die Rolle der IT im RTE. Außerdem verschaffen Portale und Content-Management-Systeme Entscheidern schnellen Zugriff auf die notwendigen Informationen und setzen die gesamte Mitarbeiterschaft eines Unternehmens über Maßnahmen und ihre Auswirkungen ins Bild.

Es stellt sich also nicht so sehr die Frage, welche Technik eingesetzt wird, sondern wozu. Um Unternehmensprozesse zu beschleunigen, kann IT in folgenden Bereichen helfen: Verfolgen, was geschieht; Analysieren, was wichtig und dringend zu erledigen ist; Reaktionen der richtigen Ansprechpartner erzeugen; Lösungen von Partnern im Wertschöpfungsnetz bereitstellen; Kommunikation kontrolliert ablaufen lassen.

Um den Anforderungen an ein RTE zu genügen, müssen verschiedene technische Voraussetzungen erfüllt sein:

Um Prozesszeiten zu verkürzen, bedarf es einer Architektur, die möglichst verzögerungsfrei (zero latency) arbeitet.

Damit sich Prozesselemente sowohl zeitlich als auch räumlich verschieben lassen, müssen Internet- und Wireless-Infrastrukturen vorhanden sein.

Um Veränderungen auf die gesamte Wertschöpfungskette auszudehnen, sind Standards für den Datenaustausch und die Definition von Abstraktionsebenen notwendig.

Damit sich die Zyklen zeitlich verkürzen und Prozesse flexibel aufbauen lassen, müssen granulare, lose gekoppelte Systeme geschaffen werden.

Bessere Angebote und Serviceniveaus für ungeduldige und fordernde Kunden brauchen auf IT-Seite serviceorientierte Architekturen.

Obwohl wenig neue Technologien notwendig sind, geht Gartner davon aus, dass Unternehmen, deren IT-Architekturen und Middleware nicht dem aktuellen Stand entsprechen, dort einige Anstrengungen unternehmen müssen, wenn sie Richtung RTE marschieren wollen. (ciw)