Auf dem Weg zum "Zero-latency-Enterprise"

Gartner Group: Strategien für die Enterprise Application Integration

24.09.1999
Der Dauerbrenner "Applikationsintegration" erhält im Zeitalter von E-Commerce neuen Auftrieb. "Enterprise Application Integration" (EAI) heißt das Schlagwort zu diesem Thema. Welche Strategien hier möglich sind, zeigte die Gartner Group Anfang September auf einem Kongreß in London, den Andreas Kühne* besucht hat.

Obwohl EAI gute Aussichten hat, zum "Buzzword" des Jahres zu werden, steht es für eine lang bekannte Aufgabe eines jeden DV-Strategen: die verschiedenen Anwendungen eines Unternehmens zu einer reibungslosen und verzögerungsfrei arbeitenden Einheit zu verschmelzen. Ganz gleich, ob es sich dabei um Standardpakete oder Eigenentwicklungen handelt, ob sie in Cobol, Java oder C++ geschrieben sind und auf welchem Betriebssystem sie laufen. Mit dem Untertitel "Building a Zero-latency-Enterprise" beschreibt die Gartner Group die gestiegene Anforderung an den Informationsfluß innerhalb eines Unternehmens und über dessen Grenzen hinweg. Der elektronische Kunde erwartet eine prompte Bedienung, im Business-Bereich sichert die sofortige, verbindliche Zusage von Preis und Liefermenge die Geschäftsverbindung.

Die Erschließung zusätzlicher Geschäftsfelder und die Erweiterung des Service-Angebots stellen laufend bisher ungewohnte Anforderungen an die DV. Daraus resultiert der Bedarf, neue Anwendungen in die bestehende Struktur zu integrieren. Die großen ERP-Applikationen decken laut Gartner Group nur 35 bis 40 Prozent der Unternehmensanforderungen ab, so daß es immer auch andere wichtige Anwendungen in der IT-Landschaft geben wird und EAI nicht nur eine vorübergehende Aufgabe darstellt.

Die wichtigsten Motoren für EAI sind Data-Warehousing und Data-Mining, Customer-Relationship-Management (CRM), Supply-Chain-Management (SCM), Enterprise Resource Planning (ERP), Workflow, E-Commerce sowie Firmenfusionen. Zur Zeit stellt E-Commerce die größte Triebfeder für die Anwendungsintegration dar. In direktem Kontakt mit Kunden oder Lieferanten erweisen sich viele Standard-Geschäftsprozesse als zu unhandlich implementiert und die zugehörigen Anwendungen als nur von geschultem Personal bedienbar. Dadurch ergibt sich die Notwendigkeit, bereits eingeführte Abläufe zusätzlich mit einer neuen, "stromlinienförmigen" Oberfläche Web-fähig zu gestalten. Natürlich müssen auch die Web-Anwendungen auf Basis des jeweils aktuellen Datenbestands arbeiten.

Zweifelhafte Spaghetti-Integration

Geradezu selbstverständlich erscheint die Notwendigkeit von Daten- und Anwendungsintegration bei einem Firmenzusammenschluß. Die Aufwände hier liegen erfahrungsgemäß in der Größenordnung eines IT-Jahresbudgets und müssen über mehrere Jahre verteilt werden. Dennoch berichten die Gartner-Analysten von Fusionen, bei denen die prognostizierten Kostenvorteile im operativen Geschäft durch die vernachlässigten Mehraufwendungen im IT-Bereich mehr als kompensiert wurden.

Man ist deshalb gut beraten, die zum Beispiel bei der Einführung von R/3 entstehenden integrativen Aufgaben nicht als ein einmaliges Phänomen anzusehen und nur Punkt-zu-Punkt-Verbindungen (Spaghetti-Integration) zwischen zwei Applikationen herzustellen. Die Gartner Group erwartet, daß in den nächsten Jahren bis zu 35 Prozent der IT-Kapazität auf die Wartung von Spaghetti-Integration verwendet wird, eine dramatische Zahl angesichts der immer wichtiger werdenden strategischen Projektvorhaben.

Die richtige Team-Mischung

Die Analysten raten daher im ersten Schritt, ein spezielles Integrationsteam aufzusetzen, das von höherer Warte aus das Zusammenspiel der Einzelkomponenten sicherstellt. Für die Besetzung dieses Teams empfiehlt sich eine Mischung von:

- erfahrenen Anwendern, die Überblick über die Geschäftsprozesse einbringen können,

- Datenmodellierern, deren Überblick über Datenbestände und -flüsse wertvoll bei der Definition von Applikations-Schnittstellen ist, und

- Systemprogrammierern, die mit ihrem systemnahen Know-how schnell Lösungen für technische Probleme der Integration finden.

Aufgabe und Verantwortung dieses Teams ist es, ein EAI-Modell und ein EAI-Interface zu entwickeln, das die Integration und Interoperabilität neuer Anwendungen innerhalb der vorhandenen oder geplanten Systemlandschaft sicherstellt und den Integrationsprozeß insgesamt maßgeblich beschleunigt. Von diesem Team werden unter anderem die Dienstleistungen von Komponenten (Services) durch das EAI-Interface beschrieben. Die Services sollen auf einer hohen fachinhaltlichen Ebene liegen, um eine weitgehende Stabilität des Interfaces zu erreichen. Die Probleme einer Überdetaillierung wie beim "unternehmesweiten Datenmodell" werden so vermieden.

Erfahrungen aus dem klassischen Anwendungsdesign sind nicht direkt auf das EAI übertragbar. Die Gartner Group benutzt hier als Metapher den Unterschied zwischen Architekten und Städteplanern, die nicht gegeneinander ausgetauscht werden können, obwohl sich ihre Tätigkeiten doch nur im Skalierungsfaktor unterscheiden. Um den Start in das EAI-Zeitalter deutlich zu vereinfachen, sollten sich Unternehmen, für die sich dieses Thema im Moment noch als neues Terrain darstellt, kompetente Beratung ins Haus holen, um das eigene Integrationsteam in der Startphase methodisch zu unterstützen.

Für die Realisierung von EAI stehen drei Strategien zur Auswahl. Zunächst gibt es die datenzentrierte Integration, bei der das Augenmerk auf einer Wahrung der Konsistenz von Datenbeständen liegt. Redundante Bestände werden, im einfachsten Fall, von einer führenden Quelle im Batch, seltener online, an abhängige Systeme übertragen. Werden Daten an verschiedenen Stellen gepflegt, so entsteht zusätzlicher Abgleichaufwand. Am Markt stehen viele ausgereifte Tools der ETT-Gattung (ETT = Extraction, Transformation and Transport) zur Verfügung. Nachteile des datenzentrierten Ansatzes bleiben aber die Redundanz der Datenzugriffsschicht (besonders problematisch bei schreibendem Zugriff) und die mangelnde Aktualität bei Systemen mit Batch-Abgleich. Zur Zeit werden immer noch mehr als 80 Prozent aller Integrationsprojekte auf der Datenebene realisiert. Gartner empfiehlt jedoch, neue strategische Projekte nicht mehr auf dieser Basis zu implementieren.

Die zweite Möglichkeit besteht in der Message-orientierten Integration (MOI). Sie ist besonders bei der losen Kopplung von physikalisch unabhängigen Systemen sinnvoll, so etwa bei der Anbindung einer Spedition an das Fertigungssystem. Bei der MOI wird zwischen den Teilnehmern die Struktur der Message vereinbart, Implementierungsdetails der teilnehmenden Applikationen bleiben verborgen. Unter Beachtung der vereinbarten Schnittstelle können auch mehrere Sender oder Empfänger an der Message-Kommunikation teilnehmen, ohne daß die Implementierungen angepaßt werden müßten. Marktführer auf dem Gebiet der Message-Middleware ist IBM mit dem Produkt "MQ Series". Leider ist bisher nur für Java ein herstellerunabhängig standardisiertes API vorhanden.

Die engste Kopplung von Anwendungen stellt schließlich die dritte Möglichkeit dar: das Composite-Application-Pattern (CAP). Die einzelnen Komponenten interagieren synchron über ihre definierten, zum Beispiel über IDL beschriebenen Schnittstellen. Die Vermittlung der Aufrufe über Sprach-, Betriebssystem- und Plattformgrenzen hinweg leistet ein Object Request Broker (ORB). Die transaktionale Sicherheit über alle Ressourcen hinweg wird von einem Object Transaction Monitor (OTM) sichergestellt. Für den Aufrufer stellt sich diese Aggregation von Komponenten als eine homogene Anwendung dar. Als Anbieter im Bereich ORB und OTM ist Bea Systems zu nennen - der Hersteller deckt mit der "Weblogic"-Produktpalette den ganzen Bereich vom kleinen E-Shop bis zum Hochlast-Buchungssystem ab. Mit einem ähnlichen Anspruch tritt auch IBMs "Websphere" an.

Für den Austausch bei datenzentrierter und Message-orientierter Integration erreichte die Extensible Markup Language (XML) schnell eine breite Akzeptanz. Durch die enthaltene Metainformation und die Bestrebungen zur globalen Standardisierung von XML-Datentypen eignet sich die Sprache hervorragend für den Einsatz im Business-to-Business-Bereich.

Für Neuentwicklungen sind nach Roy Schulte, Vice-President and Research Fellow der Gartner Group, entweder MOI oder CAP einzusetzen - abhängig von der Art der Problemstellung. Die Koexistenz beider Ansätze wird dadurch erleichtert, daß eine Konvergenz von Message- und Komponentensystemen (synchrone Messages, Corba-Event-Service) festzustellen ist. Die Fragen nach dem konkreten Komponentenmodell (EJB, Corba oder Com+) kann pragmatisch etwa nach dem vorhandenen Know-how beantwortet werden, da die Interoperabilität dieser Modelle gegeben ist beziehungsweise noch hergestellt wird. Obwohl die CAP-Produkte noch nicht den Reifegrad eines Cics aufweisen, sind laut Schulte bereits unternehmenskritische Anwendungen erfolgreich mit dieser Technologie umgesetzt worden.

Eine weitere wichtige Dimension von EAI liegt darin, strategische Anwendungen ohne Verzögerungen einführen zu können. Die definierten Services bilden eine solide Basis sowohl für die systematische Weiterentwicklung als auch für opportunistische (Quick-and-dirty-)Anwendungen, mit denen schnell ein Konkurrenzvorteil erreicht werden soll. EAI ist damit ein Schlüssel zum Wettbewerbsvorsprung, der durch schnelle Implementierung und voll integrierte Systeme erreicht werden kann. Die Erfolgsfaktoren für ein "Zero-latency-Enterprise" sind jedoch die Etablierung eines eigenen permanenten Integrationsteams und die Schaffung des Bewußtseins, daß EAI eine ständige Aufgabe ist, die jede Applikation betrifft.

*Andreas Kühne ist Berater und Gesellschafter der Firma Kühne, Liedtke & Partner in Hamburg.