IT in Versicherungen/IT-Herausforderungen bei Versicherungszusammenschlüssen

Fusionen: IT-Integration ist die halbe Miete

04.02.2000
Die Integration der IT-Systeme ist einer der wichtigsten Bausteine beim Zusammenschluss von Versicherungsunternehmen. Schließlich gehen bis zu 50 Prozent aller Synergien, die sich durch solche Zusammenschlüsse erzielen lassen, auf das Konto der IT-Integration. Ralph Müller* erklärt, welche wichtigen Entscheidungen schon zu Beginn eines Merger notwendig sind und warum. Außerdem skizziert er den Zeitplan und den Prozess der Integration der IT-Landschaften in den betroffenen Unternehmen.

Die Konzentrationswelle hat auch die Versicherungswirtschaft erfasst; ein Ende dieses Trends ist nicht abzusehen. Experten rechnen damit, dass sich die Zahl der Versicherungsunternehmen in den nächsten fünf bis zehn Jahren zumindest halbieren wird. Der wichtigste Grund für die zunehmende Konzentration: Den steigenden Kosten in der Versicherungsbranche stehen sinkende Einnahmen gegenüber. So wachsen die Ausgaben für die Versicherer auf der Schadenseite, im Rückversicherungsbereich und bei den Gehältern. Der Umsatz wird geschmälert durch gestiegenes Preisbewusstsein der Kunden sowie durch Sättigungseffekte in den traditionellen Schlüsselsparten.

Viele Versicherer setzen daher auf Größe, um die zurückgehende Profitabilität zu kompensieren. Die Deregulierung im europäischen Versicherungsmarkt führt zu einer weiteren Konzentration von Anbietern - mit Folgen auch für die deutsche Versicherungsindustrie. So belegen zahlreiche Beispiele der jüngsten Vergangenheit den Trend: 1997 bildeten sich beispielsweise Parion und Ergo als Zusammenschluss mehrerer deutscher Versicherer. 1998 folgten die Fusion von Allianz und der französischen AGF sowie der Merger der Aachener und Münchener und ihrer Tochtergesellschaften mit der italienischen Generali, und 1999 wurde der Zusammenschluss von AXA Colonia mit der Albingia eingeleitet.

Die Fusionswelle stellt die IT-Abteilungen der Versicherer vor große Herausforderungen, da nahezu alle Geschäftsprozesse einer Versicherung von IT durchdrungen sind - von der Eingabe der Vertragsdaten beim Agenten über die Bearbeitung von Änderungsanträgen bis zur Abwicklung eines Schadensfalls. Die Konsequenzen einer Fusion sind daher enorm: Zwei häufig sehr unterschiedliche, historisch gewachsene IT-Plattformen müssen in eine neue, einheitliche Infrastruktur und Anwendungslandschaft überführt werden. Zwar wäre es kurzfristig gesehen einfacher, beide IT-Landschaften zu erhalten.

Langfristig jedoch führt kein Weg daran vorbei: Bis zu 50 Prozent der gesamten Merger-Synergien lassen sich nur durch eine konsequente Konsolidierung der IT-Systeme ausschöpfen.

Damit hat die Integration der Systeme beim Zusammenschluss von Versicherungsunternehmen eine deutlich höhere Priorität als beispielsweise bei produzierenden Unternehmen, bei denen diese Synergien wesentlich geringer ausfallen.

Bei der Erschließung dieser Potenziale zeigen sich in der Realität jedoch große Unterschiede. Während einige Versicherer in kürzester Zeit ihre kompletten IT-Landschaften erfolgreich integrieren, benötigen andere viele Jahre, um nur einen kleinen Schritt in Richtung einer gemeinsamen IT-Welt zu gehen. Welche Erfolgsfaktoren führen nun zu einer adäquaten IT-Integration?

Zu Beginn sind wichtige Grundsatzentscheidungen zu treffen. Zunächst muss die gemeinsame Zielplattform für die betroffenen Unternehmen ausgewählt werden; daraufhin ist über das grundsätzliche Vorgehen zu entscheiden. Auf dieser Grundlage müssen dann die Prioritäten des Projektportfolios neu bestimmt werden. Auf diese drei grundsätzlichen Entscheidungen soll nun intensiver eingegangen werden.

Schnelle und objektive Wahl der gemeinsamen Zielplattform:

Die wichtigste Entscheidung im Rahmen einer IT-Integration ist die Auswahl der zukünftigen gemeinsamen Anwendungslandschaft. Dieser oft schmerzhafte Prozess sollte möglichst schnell und objektiv durchgeführt werden. Integrationsaufwand, Integrationszeit und Projektrisiken sind am geringsten, wenn eine der bestehenden Systemlandschaften als Zielplattform ausgewählt werden kann. Der Anpassungsaufwand geht dann drastisch zurück, bei annähernd vergleichbarer Funktionalität fällt im Wesentlichen nur noch der Aufwand für Datenübertragung an.

Um den Auswahlprozess schnell und dennoch objektiv zu gestalten, sollten anhand von K.-o.-Kriterien zunächst die grundsätzlichen Optionen reduziert werden. Mögliche Kritierien sind zum Beispiel die Skalierbarkeit auf die zukünftigen Datenmengen und die technische Zukunftsfähigkeit der verwendeten Basistechnologien. In einer zweiten Auswahlstufe werden dann die verbleibenden Optionen aus wirtschaftlicher Sicht bewertet.

Bei Versicherern bedeutet die Integration in eine Zielsystemlandschaft insbesondere, dass gleiche Schlüssel- und Ordnungsbegriffe verwendet, dass einheitliche Verfahren zur Tarifberechnung, Rabattierung und Risikoeinschätzung eingesetzt und dass Wagnisstrukturen abgestimmt und gleiche Dynamisierungsverfahren angewandt werden.

Eine besondere Herausforderung stellen die umfangreichen historischen Vertragsbestände dar. Lebensversicherungsverträge beispielsweise laufen oft schon 30 Jahre und länger, was dazu führt, dass aufgrund von Veränderungen am Produkt zahlreiche historische Produktgenerationen nachgebaut werden müssen. Dieser Prozess ist jedoch risikoreich und kann aufwändig und teuer werden. Eine andere Möglichkeit besteht darin, beide Altsysteme weiterhin für die bestehenden Verträge zu benutzen, sich für alle Neuverträge jedoch auf ein System festzulegen. Damit umgeht der Versicherer die komplizierte Übertragung der Bestände und spart zumindest einen großen Teil des Aufwands für die Weiterentwicklung eines der beiden Altsysteme. Allerdings führt dieses Vorgehen auch dazu, dass alle Anwender in der Lage sein müssen, zwei Systeme zu bedienen. Oftmals ist es sogar preiswerter, einige Versicherungsverträge aufzulösen, soweit dies rechtlich möglich ist, oder manuell zu bearbeiten, anstatt für einige hundert alte Verträge aufwändige Datenkonvertierungsprogramme zu schreiben.

Für die Integration der beiden Systemlandschaften in die gemeinsame neue gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: stufenweise vorgehen oder im Big-Bang-Verfahren. Stufenweise bedeutet, dass bei der Integration die einzelnen Versicherungssparten nacheinander migriert werden. Beim Big Bang dagegen starten alle Sparten-, Zentral- und Vertriebssysteme am gleichen Tag ihre Arbeit mit den neuen Systemen.

Die Entscheidung zwischen beiden Optionen ist ein Kompromiss zwischen der Dauer der Integration, den dadurch entstehenden Kosten und den damit verbundenen Risiken. Bei der stufenweisen Integration müssen die beiden Systemwelten zunächst durch Schnittstellen verbunden werden. Sowohl der Integrationsaufwand als auch die Integrationszeit sind dadurch höher. Je nach Überbrückungsaufwand können die Kosten für die stufenweise Integration um bis zu 40 Prozent höher sein als bei der Big-Bang-Lösung. Allerdings ist hierbei das Projektrisiko höher, da eine Vielzahl komplexer Systeme mit zahlreichen Abhängigkeiten untereinander an einem Stichtag umgestellt werden muss. Das synchrone Vorgehen bei der Durchführung der verschiedenen Teilprojekte führt dazu, dass eventuelle Verzögerungen bei einem Projekt auf alle anderen Projekte durchschlagen. Dieses Risiko lässt sich jedoch durch stringentes Projekt-Management erheblich reduzieren.

Ein positiver Nebeneffekt: Das synchrone Vorgehen mit seinen für alle verbindlichen Meilensteinen hat eine starke disziplinierende Wirkung. Ein erheblicher Nachteil der Big-Bang-Lösung liegt schließlich in den langen Rechnerlaufzeiten während der Übertragung der Daten von Versicherung zu Versicherung. Diese Laufzeit kann sich zu mehreren Tagen addieren. Legt man den Big-Bang-Termin jedoch auf ein Wochenende, ist die Auszeit der Systeme bei einer Versicherung vertretbar. Anders bei Banken: Eine längere Systemauszeit ist auch am Wochenende nicht realisierbar. Bei einem Merger von Banken wird die Big-Bang-Lösung deshalb in der Regel verworfen.

Bisherige Aufgaben drastisch reduzieren

Die aufwändige IT-Integration lässt sich meist nur realisieren, wenn das bisherige Aufgabenportfolio drastisch reduziert wird. Das hat zwei Gründe: Für die Integrationsprojekte ist ein genaues Verständnis der Altsysteme beider Versicherer notwendig, sodass externe IT-Spezialisten nur in sehr begrenztem Umfang eingesetzt werden können. Die Bestands- und Schadenssysteme der meisten Versicherer sind historisch gewachsene Individuallösungen, die nur wenige Spezialisten detailliert kennen. Der zweite Grund für eine Reduzierung des Portfolios: Die Integration sollte so schnell wie möglich über die Bühne gehen. Je länger der Fusionsprozess dauert, desto stärker verzögert sich die Realisierung der Synergien.

Also müssen die bisherigen IT-Aufgaben radikal reduziert werden. Alle Aufwandspositionen sollten grundsätzlich daraufhin hinterfragt werden, ob sich mindestens 50 Prozent des gesamten Portfolio-Aufwands reduzieren ließen. Schwerpunkte für die Freisetzung von Ressourcen sind dabei Neu- und Weiterentwicklungsprojekte.

Entscheidungen müssen schnell getroffen werden

Für Wartungsaufgaben dagegen ist es häufig aufgrund gesetzlicher und operativer Zwänge schwierig, neue Prioritäten festzulegen. Die laufende Weiterentwicklung der bestehenden Lösungen sollte auf die ausgewählten Zielsysteme ausgerichtet sein. Auch alle Neuprojekte sollten hinsichtlich ihres tatsächlichen quantitativen Nutzens und ihrer strategischen Bedeutung einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Ein komplettes Einfrieren aller Neuentwicklungen freilich ist nicht ratsam - das Markt- und Wettbewerbsumfeld im Versicherungsmarkt ist zu dynamisch. Zumindest aber müssen die weitergeführten Projekte auf die neuen Anforderungen aus dem Zusammenschluss ausgerichtet werden.

Die besondere Herausforderung für die IT-Abteilung liegt darin, dass all diese Entscheidungen sehr schnell getroffen werden müssen, um den gesamten Fusionsprozess möglichst rasch abschließen zu können. Alle wesentlichen IT-Integrationsaufgaben sollten nach ein bis zwei Jahren erledigt sein. Der Zeitplan sieht dann wie folgt aus: Am Ende des ersten Monats sollte die Bestandsaufnahme beendet sein, am Ende des zweiten Monats müssen die Zielsystemlandschaft ausgewählt und der grobe Meilensteinplan erarbeitet sein. Am Ende des dritten Monats sollten die neuen Prioritäten für das Projektportfolio feststehen.

Nach weiteren drei Monaten kann die Detailplanung abgeschlossen sein, wiederum drei Monate später sollte die Spezifikationsphase enden. Je nach Umfang der erforderlichen Programmier- und Testarbeiten kann der gesamte Merger damit in deutlich weniger als zwei Jahren abgeschlossen sein. Wichtig ist, dass die für Versicherungen typischen Arbeitsspitzen wie Jahresabschlussläufe, Jahres- und wichtige Monatsinkassi von vornherein in die Planung aufgenommen werden, um böse Überraschungen zu vermeiden. Der Haupterfolgsfaktor ist jedoch die intensive Einbindung des Top-Managements - sonst ist ein solch anspruchsvoller Zeitplan nicht zu realisieren.

Angeklickt

Versicherungsunternehmen scheinen besonders oft zu fusionieren und zwar nicht nur die großen der Branche. Es heißt also, immer auf einen Merger vorbereitet zu sein. Eine gute Voraussetzung ist Datenintegrität. Dann wird die IT-Integration der fusionierenden Unternehmen leichter von statten gehen. Nach der Auswahl der gemeinsamen Zielplattform ist die Selektion der zukünftigen gemeinsamen Anwendungslandschaft zu treffen. K.-o.-Kriterien können sein: Skalierbarbeit auf die künftigen Datenmengen und technische Zukunftsfähikeit der Basistechnologien. Weitere verbleibende Optionen werden aus wirtschaftlicher Sicht bewertet.

*Dr. Ralph Müller ist Projektleiter im Business Technology Office (BTO) von McKinsey & Company in Frankfurt am Main.