An der Börse ist eine Sommerrallye mit 20 Prozent Erholungspotential möglich, aber:

Für nachhaltigen Aufschwung noch zu früh

03.06.1988

München - Der Börsenkrach ist noch nicht vergessene. Auch die sogenannten High-Tech-Werte liegen eher noch in Kellernähe denn beim Vor-Crash-Niveau. Finanzfachmann und CW-Mitarbeiter Arndt Wolpers geht nach einer allgemeinen Börsensituationsbeschreibung auf Werte wie Siemens. Nixdorf, Apple oder Hewlett-Packard ein.

Die Weltleitbörse in Wall-Street befindet sich seit Monaten in einer Schaukelphase. Trotz zum Teil ausgezeichneter fundamentaler Nachrichten und in der Regel deutlicher Gewinnsteigerungen der US-Unternehmen gelang es dem Dow-Jones-Aktiendurchschnitt nicht, die Schwankungsbreite zwischen 1800 und 2200 nach oben zu durchbrechen. Auch wenn es bei einer ganzen Reihe von Aktien zu Erholungen gekommen ist, welche die Kurse auf Vor-Crash-Niveau trieben, enttäuscht die Kursentwicklung in Wall-Street zumindest die Optimisten unter den Beobachtern.

Schlechte Entwicklung in Hartwährungsländern

Noch schlechter als in den USA entwickelten sich die Aktienbörsen in den Hartwährungsländern. Dort, wo die fundamentalen Kennzahlen wie Kurs/Gewinn-Verhältnis beziehungsweise Kurs/Cash-Flow-Verhältnis am niedrigsten sind, die Aktien also am preiswertesten zu sein scheinen, blieben die Erholungsansätze gering. Aktienbörsen wie Frankfurt und Zürich konnten sich nur unwesentlich erholen. Wichtige Standardwerte dieser Märkte notieren heute unterhalb des Crash-Tiefs vom Oktober 1987 beziehungsweise des Reaktionstiefs zum Jahreswechsel '87/'88. Bei weitem günstiger verlief die Entwicklung in Amsterdam, wo es seit Jahresanfang zu einer 25prozentigen Erholung kam. Allerdings gelang es auch dem Index in Amsterdam nicht, den charttechnisch wichtigen gleitenden 200-Tages-Durchschnitt zu durchbrechen beziehungsweise einen neuen, markanten Aufwärtstrend zu begründen.

Die Ursachen für das enttäuschende Abschneiden der deutschen und der schweizerischen Börsen liegen nicht im fundamentalen Bereich. Die fundamentalen Kennzahlen an diesen Börsen sind niedrig. Die derzeitige relative Schwäche der Hartwährungsbörsen ist vielmehr auf markttechnische Folgen des Börsenkrachs zurückzuführen.

Während des Oktober-Crash kam es an der deutschen Börse zu einer regelrechten Liquidationsbaisse. Der deutsche Aktienmarkt hatte ähnlich wie die Hartwährungsmärkte in Holland und der Schweiz schon vor 1? Jahren begonnen, die vierjährige Hausse seit 1982 zu konsolidieren. Der FAZ-Index kletterte im April 1986 auf das Rekordhoch von gut 700 Punkten, der Dow-Jones erreichte sein Hoch erst im August 1987 bei 2700. Vor diesem Hintergrund hätten wegen der zurückliegenden Teilbereinigungen die Kursverluste in Frankfurt während des 4. Quartals geringer ausfallen müssen als etwa in Wall-Street oder auch in Tokio. Das Gegenteil war der Fall.

Durch den weltweiten Aktienmarktzusammenbruch war im Oktober '87 kurzfristig ein ungeheurer Liquiditätsbedarf entstanden. Während Nebenmärkte wie Spanien oder Hongkong wegen fehlenden oder zu Abwehrkonditionen stattfindender Kursstellungen kaum einen Handel erlaubten, gelang es den Banken und Händlern in Deutschland und der Schweiz, die Märkte handlungsfähig zu erhalten. Wer Liquidität benötigte, um aufgerissene Löcher zu stopfen, hatte in Frankfurt gute Chancen, innerhalb von zwei Valutatagen den Verkaufserlös auf dem Konto verbuchen zu können. Nur wenige Nebenbörsen konnten diese Möglichkeit bieten. Als eine der auslandabhängigsten Börsen weltweit wurde der deutsche Markt in das Zentrum des Liquidationsstrudels gerissen.

Als zusätzliche technische Belastung erweist sich heute die Kaufeuphorie inländischer Kleinanleger während der Tage nach dem Crash. Unterstützt durch unverantwortlich positive Berichterstattung in den Medien ("Deutsche Aktien waren noch nie so billig wie nach dem Crash.") schwappte nach dem 20. Oktober 1987 eine Welle von Kleinstorders über die deutschen Börsen. Marktkenner gebrauchten den treffenden Vergleich des "Volkssturms" und wiesen darauf hin, daß durch die Kaufwelle der Kleinanleger das mögliche Käuferpotential an der Börse weitgehend erschöpft sei.

Die Einschätzung war richtig; der deutsche Markt fiel bis zum Jahreswechsel auf neue Tiefstkurse und ist auch heute technisch noch nicht annähernd bereinigt. Immer wenn es zu einer Erholung kommt, wächst bei den Anlegern und Institutionen, die zu deutlich höheren Kursen gekauft haben, die Neigung, die Verluste zu begrenzen und Positionen abzubauen. Dies führt zu einer andauernden technischen Belastung des deutschen und schweizerischen Aktienmarktes.

Auch wenn die kurzfristig wirkenden Indikatoren (Trend- und Sentimentindikatoren) anzeigen, daß eine Sommerrallye mit einem Erholungspotential von bis zu 20 Prozent wahrscheinlicher ist als ein Durchbrechen der alten Tiefstkurse rund 10 Prozent unter dem heutigen Niveau, sollten Kapitalanleger sich vor Augen halten, daß wir uns in einer Seitwärtsbewegung an den Weltbörsen befinden und es für einen nachhaltigen Aufschwung noch zu früh ist. Die Aktienmärkte bieten Tradingchancen, und sind nur bedingt für längerfristig konzipierte Anlageentscheidungen geeignet. Ob 1989/90 noch einmal ein kräftiger Börsenaufschwung bevorsteht oder ob sich die begonnene Baisse fortsetzt, läßt sich heute noch nicht entscheiden. Die mittelfristigen Börsenperspektiven hängen sehr stark vom Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen ab.

Unter den Standardwerten der Elektro-/Elektronikindustrie eignet sich Siemens zu Tradingzwecken. Wegen der ungeschickten Informationspolitik des Unternehmens und der großen Enttäuschung auch institutioneller Anleger über die Dividendenkürzung, kam es bei Siemens auch 1988 noch einmal zu einer kräftigen Kursbereinigung. Die Aktie war ohnehin der erste Standardwert der deutschen Börse, der sein Hoch schon im Januar 1988 erreichte. Die Kurskorrektur dauert also schon beinahe 2? Jahre. Der Siemens-Kurs fiel von über 800 Mark auf gut 300 Mark ein Kursverlust von über 60 Prozent. Im gleichen Zeitraum fiel der Gesamtmarktindex in der Spitze um knapp 50 Prozent. Der Titel befindet sich in der Nähe seines Reaktionstiefs. Die jetzige Basis von gut 300 Mark sollte Erholungschancen in einer Größenordnung von 80 bis 100 Mark bieten.

Aus dem fundamentalen Blickwinkel betrachtet ist Siemens billig. Das Kurs/Gewinn-Verhältnis liegt bei 9 bis 10. Für einen Standardwert mit zusätzlicher Technologiephantasie ist dies eine niedrige Bewertung, auch wenn der Gewinn bei Siemens überwiegend im Kapitalbereich erwirtschaftet wird.

Teuerste Einsparung der Firmengeschichte

Als Beobachter darf man gespannt auf die Sanierungsbemühungen des neuen Vorstandsvorsitzenden sein. Die Ankündigung, den Siemensvorstand zu straffen und zu verjüngen dürfte noch die leichteste Aufgabe sein. Hätte man den absurd großen Siemensvorstand (31 Vorstandsmitglieder) beizeiten verkleinert, hätte man sich die 40 Millionen ausmachende Dividendenkürzung leicht sparen können. Auch wenn im Nachhinein so getan wird, als sei die Dividendenkürzung als Signal für die Siemens-Mitarbeiter gedacht gewesen, kann dieser Versuch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Dividendenkürzung die wohl teuerste Einsparung (Rufschaden bei internationalen Institutionen) der Firmengeschichte gewesen sein dürfte.

Sehr viel schwieriger als die Verkleinerung des Vorstandes dürfte die Neuorganisation des Vertriebs und die Schaffung von eigenständigen Profitcenters sein. Zunächst wird der Vorstand hier gegen starken innerbetrieblichen Widerstand ankämpfen müssen. In der Folge dürfte die Umorganisation Mittel binden und Kosten verursachen, bevor es zu einer Ertragsverbesserung im Unternehmen kommt.

Diese negativen Erwartungen sind aber im niedrigen Kurs vorweggenommen. Fundamental scheinen die Risiken bei Siemens deshalb gering. Ein Kursanstieg etwa auf Vor-Crash-Niveau, wie es der Commerzbank-Chef sieht, ist jedoch so gut wie ausgeschlossen. Hierzu wären in erheblichem Umfang Auslandskäufe notwendig. Das Auslandskapital wird den deutschen Markt im allgemeinen (teure DM) und Siemens im besonderen (schlechte Erfahrung mit der Unternehmenspolitik) zunächst noch meiden.

Nixdorf ist mit fundamentalen Maßstäben gemessen mit einem Kurs/Gewinn-Verhältnis von knapp 20 deutlich teurer als Siemens, bietet jedoch eine ungleich größere Ertrags- und Wachstumsphantasie als der Elektrogigant. Auch Nixdorf notiert in der Nahe des Nach-Crash-Tiefst. Im Crash verlor die Aktie gut 40 Prozent, also weniger als der Index.

Nixdorf hat sowohl auf der Absatzseite als auch bei den Kosten zu kämpfen. Dennoch plant das Unternehmen auch für das laufende Geschäftsjahr mit zweistelligen Wachstumsraten. Betrachtet man den 87er Abschluß näher, fallt auf, daß der Jahresüberschuß mit 19 Prozent deutlich stärker stieg als der Umsatz ( + 13 Prozent). Hier zeigen sich nicht nur die Folgen des Bilanzrichtliniengesetzes (niedrigere Abschreibungen), sondern auch der Effekt verstärkten Verkaufs bisher vermieteter Maschinen. Hierbei handelt es sich laut Aussage des Nixdorf-Vorstands nicht um Bilanzkosmetik, sondern um einen Trend der Kunden weg von der Miete hin zum Kauf.

Nixdorf birgt höhere Risiken

Wegen der deutlich höheren fundamentalen Bewertung birgt Nixdorf höhere Risiken als Siemens. Bei einer Gesamtmarkterholung während einer Sommerrallye sollte sich zwar auch der Nixdorf-Kurs erholen können, wegen des geringeren Risikos sollte unter Trading-Gesichtspunkten aber Siemens der Vorzug gegeben werden. Für spekulativ orientierte Anleger eignet sich der Kauf von Optionen auf Siemens, Termin Oktober 1988, Basispreis 380 Mark.

Apple weist Wachstumsraten auf, die immer noch deutlich über dem Branchendurchschnitt liegen. Diese Tatsache rechtfertigt eine überdurchschnittliche Bewertung. Bei einem geschätzten Gewinn je Aktie von knapp 3 Dollar notiert Apple mit einem Kurs/Gewinn-Verhältnis von etwa 13, also in etwa auf dem Niveau des Marktdurchschnitts, eine - für deren Wachstumswert - niedrige Bewertung. Der US-Broker Dean Witter sieht eine 30-Prozent-Prämie der Aktie im Vergleich zum Gesamtmarkt als möglich an. Die Apple-Bilanzkennzahlen sind ausgezeichnet. Apple hat keinerlei langfristige Schulden. Die Expansion wird weiter voll aus Eigenmitteln finanziert.

Apple finanziert Expansion aus Eigenmitteln

Obwohl Hewlett-Packard von einem Gewinnzuwachs um 25 Prozent im zweiten Quartal berichtete, kam der Aktienkurs deutlich unter Druck. Innerhalb einer Börsensitzung verlor die Notiz beinahe 10 Prozent. Zwar konnte sich die Notiz zwischenzeitlich wieder etwas erholen der Kurseinbruch als Folge guter Kennzahlen zeigt jedoch deutlich, wieviel innere Schwäche eine Aktie - aber auch ein Gesamtmarkt - wegen zu optimistischer Erwartungen der Marktteilnehmer ansammeln kann." Sell on good News" lautet einer der gängigen Börsensprüche denn diese Nachrichten haben die im Grundtenor optimistischen Börsianer langst gedanklich vorweggenommen und durch Käufe in den Kurs der Aktie mit eingebracht.

Ursache für die Enttäuschung bei Hewlett-Packard war die Tatsache daß der Umsatz in den USA lediglich um 11 Prozent zulegte, während im Export ein Plus von 29 Prozent erwirtschaftet wurde. Kritisch bemerkt wurde die enttäuschende Entwicklung des Auftragseingangs. Das Unternehmen geht jedoch davon aus, daß sich der Auftragseingang in den nächsten Monaten überdurchschnittlich entwickeln wird, nachdem neun neue Modelle der Spectrum-Business-Computer-Reihe vorgestellt wurden.

Die Spectrum Computerreihe gehört zu den wichtigen Ertragskernen von HP, weil dieser Bereich höhere Margen erlaubt als die Peripherie.

Im ersten Halbjahr 1988 kletterte der Unternehmensgewinn auf 381 Millionen Dollar, was 1,53 Dollar je Aktie beziehungsweise einem Gewinnanstieg von 37 Prozent entspricht. Nachdem der Titel nach der Veröffentlichung des Quartalsergebnisses unter Druck geriet, sollte die Notiz jetzt ausreichend bereinigt sein.

Die Ehe zwischen Olivetti und AT&T gerät immer mehr ins Gerede. Der neue AT&T-Chairman Rober Allen äußerte öffentlich Zweifel an Inhalt und Bestand der Zusammenarbeit. Die Entwicklung des Dollars und der Produktlinien habe sowohl bei Olivetti als auch bei AT&T dazu geführt zu überprüfen, ob und in welcher Form die vierjährige Zusammenarbeit fortgesetzt werden solle. AT&T geht sogar soweit, öffentlich über den Verkauf seiner Olivetti-Beteiligung zu spekulieren. Der Wert des Aktienpakets wird sich dadurch bestimmt nicht erhöhen.

Der italienische Markt macht insgesamt einen labilen Eindruck. Der Dollar macht Olivetti zu schaffen das Ergebnis je Aktie war 1987 um mehr als ein Drittel niedriger als im Vorjahr. Der auch währungsbedingt wachsende Konkurrenzkampf im PC- und Bürogerätemarkt wird es schwierig machen, an die alte Ertragskraft anzuknüpfen.