Update des 32-Bit-Systems

Für Microsoft spielt NT 4.0 die Rolle des Jolly Jokers

13.09.1996

Microsoft gab sich bei der Positionierung von Windows NT von Anfang an sehr flexibel. Es sollte sowohl als Desktop-System für gehobene Ansprüche wie auch als File-, Print- und Applikations-Server geeignet sein. Mit dem Vormarsch der Internet-Technologien übernimmt die offiziell am 12. September in Deutschland erscheinende Version 4.0 gleichzeitig zwei weitere Aufgaben: die eines Web-Client und Web-Servers.

Das ursprünglich als wenig aufregendes "Shell-Upgrade" angekündigte System wartet daher mit Neuerungen auf, die hauptsächlich auf diesen Markt zugeschnitten sind. In der Server-Version hilft in erster Linie Microsofts Bundling-Politik dem 32-Bit-Windows auf die Sprünge. Sie enthält den "Internet Information Server" (IIS) in der Version 2.0, der neben HTTP-Diensten auch FTP- und Gopher-Clients bedienen kann. Er verfügt zudem über eine ODBC-Schnittstelle, die sich für Web-basierte Datenbankanwendungen eignet. Eigentlich gilt der IIS als Mitglied von "Back Office", wurde aber praktischerweise gleich zum Betriebssystem gepackt, um dem Rivalen Netscape das Leben schwer zu machen. Als kostenlose Ergänzung zum Web-Server gibt es den "Index Server", der die Volltextrecherche über alle Dokumente eines NT-Dateisystems erlaubt. Mit von der Partie ist außerdem ein Werkzeug für Web-Publisher namens "Front Page". Dieses Produkt, durch den Kauf des Softwarehauses Vermeer in den Besitz von Microsoft gelangt, unterstützt in der vorliegenden Version 1.1 nur mehr Windows 95 und NT. Es enthält neben einem WYSIWYG-Editor für HTML-Seiten Erweiterungen für den Web-Server, mit denen sich beispielsweise Diskussionsforen einrichten lassen.

Neue und verbesserte Kommunikationsfunktionen zielen ebenfalls darauf ab, NT als Intranet- und Internet-Server aufzuwerten. Dazu gehören die Kanalbündelung für schnellere Einwählverbindungen, ein Kryptographie-API und das Point-to-Point-Tunneling-Protokoll (PPTP). Letzteres eignet sich vor allem dafür, private Netzwerke über das Internet zu koppeln. Um den im TCP/IP-Umfeld unabkömmlichen Domain Name Service (DNS) nicht Unix-Rechern überlassen zu müssen, gehört ein DNS-Server jetzt zum Lieferumfang - bei der Vorgängerversion mußte er über das Ressource Kit bezogen werden.

Mit der sich abzeichnenden Unterstützung durch Dritthersteller (beispielsweise Netscape mit der gesamten Produktpalette, Borland mit "Intrabuilder") hat NT gute Chancen, zum führenden Server-System für Intranets aufzusteigen. Mit der Durchsetzung von NT in dieser Disziplin schadet Microsoft jedoch möglicherweise dem Erfolg seiner Desktop-Produkte - darunter auch Windows NT. Der Client des NT-Web-Servers ist nämlich ein Browser, der keineswegs unter Windows, ja noch nicht einmal auf einem PC laufen muß. Natürlich liegt Microsoft dennoch daran, seine Monopolstellung am Desktop zu behalten. Wenn aber die Gates-Company den Desktop-zentrierten Kurs zu immer fetteren Clients weiterfahren und gleichzeitig im Intranet-Geschäft erfolgreich sein will, gleicht dies der Quadratur des Kreises. Einen Ausweg aus diesem Dilemma könnte die Durchsetzung proprietärer Technologien wie Active X sein (siehe dazu Thema der Woche).

Etabliert sich der Browser erst als universeller Client, entfällt auch Microsofts Verkaufsargument, zu einer Umgebung von Windows-PCs passe am besten ein Windows-Server, da ein solcher mit der gleichen vertrauten Benutzerschnittstelle ausgestattet sei. Das gilt erst recht dann, wenn Microsoft Anfang nächsten Jahres die Windows-GUI völlig nach der Browser-Metaphorik umgestaltet ("Nashville"). Schon jetzt läßt sich der IIS von entfernten Rechnern aus per Browser verwalten - dies gilt aber für die Konkurrenzprodukte von Netscape genauso. Den Vorteil grafischer Verwaltungswerkzeuge, den Microsoft gegenüber Unix immer wieder zur Geltung brachte, ist indes auch ohne das allgegenwärtige Web-Front-end schon verschwunden.

Unbeeindruckt von den kostengünstigen, sicheren Clients, die das Intranet in Aussicht stellt, positioniert die Gates-Company Windows NT als das PC-Betriebssystem für professionelle Anwender.

Denn das als robust und sicher gelobte System soll endlich die zahlreichen Desktop-Probleme beseitigen, die Windows 3.x mit sich brachte und die zu lösen viele DV-Veranwortliche Windows 95 nicht zutrauen. Dabei geht es nicht nur um technische Arbeitsplätze mit CAD- und CAM-Anwendungen oder Desktop Publishing, wo NT in der Konkurrenz gegen Unix-Workstations gute Chancen zugebilligt werden. Vor allem die Kundschaft aus Banken und Versicherungen liebäugelt mit "Personal Workstations" auf jedem Schreibtisch, die höhere Absturzsicherheit, weniger Verwaltungsaufwand und lokales Logon bieten soll. Wenn sich die Anforderungen eines Arbeitsplatzes aber relativ leicht über Browser-basierte Anwendungen abdecken lassen, werden sich diese Anwender den Microsoft-Slogan "Where do you want to go today?" gründlich durch den Kopf gehen lassen.

Microsoft wirbt damit, daß NT in der Version 4.0 für den Desktop-Betrieb optimiert wurde. Am auffälligsten dabei ist die von Windows 95 übernommene Benutzeroberfläche, die im Vergleich zum Programm-Manager doch wesentlich flexibler und ansprechender ist. Allerdings erbt sie auch alle Schwächen des kleineren Windows, wie Inkonsistenzen bei der Bedienerführung, statische Symbole mangels Objektorientierung oder die völlig anachronistische Verknüpfung von Dateien mit Programmen über die Namensendung. Gerade die Verstreuung von NT-spezifischen Verwaltungsfunktionen über verschiedenste Orte zeugt mehr vom Unverstand der Microsoft-Designer als von einer intuitiven Benutzerschnittstelle. Such- und Klickorgien sind allzu häufig die Folge.

Um die Ausführungsgeschwindigkeit von Desktop-Anwendungen zu erhöhen, nahmen die Entwickler in Redmond Änderungen an der Systemarchitektur vor. Das Graphic Device Interface (GDI) und die Fensterverwaltung wurden vom weniger privilegierten User-Modus in den Ring 0 verlagert, in dem der Kernel abläuft. Kritiker befürchten, daß diese Maßnahme zu Lasten der Stabilität geht. Um für Server und Workstation das gleiche Treibermodell zu behalten, gilt diese Änderung für beide Ausführungen. Das "one size fits all", nach dem NT für alle möglichen Zwecke vermarktet wird, produziert auch hier einen Widerspruch: Was der Workstation zu besserer Performance verhilft, könnte der Stabilität des Servers schaden.

Noch augenfälliger wird der Gegensatz zwischen Server und Workstation, nachdem Microsoft die "Direct-X"-Schnittstellen in NT integrierte. Sie erlauben den direkten Zugriff auf Hardware wie Grafik- oder Soundkarten, um Multimedia-Anwendungen und Spiele zu beschleunigen. Für Anwender, die nach einem robusten Applikations-Server suchen, stellt sich die Frage, ob sie mit einem System gut bedient sind, das auch zur Spielekonsole optimiert wurde.

Draußen bleiben muß das Universalgenie NT derzeit noch bei mobilen Anwendern. Fehlende Unterstützung für Power-Management machen es für Notebooks wenig geeignet. Dies ist eine Beschränkung für Anwender, die ihre DV auf einen einheitlichen Client standardisieren wollen. Eine solche kennt beispielsweise IBMs Konkurrenzsystem OS/2 nicht.

Große Hoffnungen setzt Microsoft auf den Erfolg von NT als File-und Print-Server. Diesen Markt dominiert bis dato Novell. Allerdings präsentiert sich die Netware-Company, nach der Orientierungslosigkeit und den Fehlentscheidungen der letzten Jahre, immer mehr als windelweicher Gegner für Microsofts Expansionsbestrebungen. Diese werden dadurch begünstigt, daß ein Systemwechsel bei Datei- und Druckdiensten relativ leicht zu vollziehen ist: Er erfolgt für die Anwender transparent. Im Gegensatz dazu ist die Umstellung eines Applikations-Servers mit der Portierung von Anwendungen verbunden. Darin liegt wohl der Grund, warum sich NT bis dato im angestammten Netware-Markt breitmachen, Unix aber kaum bedrängen konnte. Dazu kommt noch, daß letzteres für geschäftskritische Anwendungen häufig den Vorzug erhält, weil es den Ruf hat, stabiler, ausgereifter und besser skalierbar zu sein als Windows NT.

Microsoft sieht NT technisch für die Konkurrenz im Fileserver-Markt gut gerüstet. Nach Angaben des Herstellers konnte die Performance des 32-Bit-Systems in diesem Bereich deutlich verbessert werden, in 100-MBit/s-Netzen angeblich um bis zu 66 Prozent. In kleineren LANs kann es zudem als Router für TCP/IP, IPX und Appletalk fungieren und so den Kauf dedizierter Hardware ersparen. Umgekehrt weist NT 4.0 bei größeren Netzwerken noch die Mängel der Vorgängerversionen auf. Dazu gehört allen voran das Fehlen von Verzeichnisdiensten, wie sie Novell vorweisen kann. Sie sollten das umständliche und beschränkte Domänenkonzept ablösen. Gerade im Vergleich zu Unix werden Systemverwalter auch die völlige Abwesenheit von Scripting-Möglichkeiten bemängeln die Administration selbst großer Benutzergruppen ist nur über den interaktiven Betrieb der GUI-Utilities möglich. Weiterhin leistet sich NT den Luxus, auf eine Diskquota zu verzichten, die den verfügbaren Plattenplatz für einzelne Benutzer limitieren kann.

Aber nicht nur das Abschneiden von NT im Verhältnis zu Netware wird die Entwicklung des Fileserver-Marktes in den nächsten zwei bis drei Jahren bestimmen. Glaubt man Marktforschern wie Forrester Research, dann geraten diese proprietären Dienste zunehmend unter Druck von offenen Internet-Standards.

Erfolg als Web-Server schadet File-Server

Daß dies nicht bloß wilde Spekulationen von Internet-Apologeten sind, belegte Microsoft eindrucksvoll mit der Beschränkung von NT Workstation auf zehn gleichzeitige TCP/IP-Verbindungen. Anwender, die zur internen Informationsverarbeitung Web-Publishing betreiben anstatt Word-Dokumente in Server-Verzeichnissen zu vergraben, benötigen den NT-Fileserver nicht. Spätestens als Netscape auf der eigenen Homepage vorrechnete, daß NT Workstation plus Netscapes Web-Server dafür eine günstigere Lösung biete, zog Microsoft die Notbremse. Wer einen Web-Server mit NT einrichten will, soll gefälligst gegen einen kräftigen Preisaufschlag die proprietären Dienste mitkaufen und bekommt dafür den "kostenlosen" IIS mitgeliefert. Offizielle Begründung für die umstrittene Maßnahme: Die Workstation sei nicht für solche Einsätze ausgelegt. Die Belastungsgrenzen des Systems könnten Anwender aber ohne weiteres selbst herausfinden, ohne sich von Microsoft durch einen Lizenzvertrag knebeln zu lassen.

Schwachpunkte von Windows NT 4.0

Grafische Oberfläche: Stimmt bei vielen Funktionen nicht mit jener von Windows 95 überein.

Viele Konfigurations- und Verwaltungsdienste sind über mehrere Orte verstreut und schwer auffindbar.

Dateien werden ausschließlich über die Namensendung mit Programmen verknüpft.

Papierkorb kann keine Dateien wiederherstellen, die auf der Kommandozeile gelöscht wurden.

Statische Verknüpfungen, die nicht auf Veränderungen des Originalsymbols reagieren.

Plug and play wird noch nicht unterstützt. Es gibt nur unterschiedliche Hardware-Profile, die vom Anwender aktiviert werden müssen.

Unterstützung für Power-Management fehlt, weshalb sich NT für den Einsatz auf Notebooks nur schlecht eignet.

Skript-Möglichkeiten reduzieren sich auf die rudimentären Fähigkeiten von Batchdateien. Dies macht sich bei der Systemverwaltung (beispielsweise bei Anmeldeskripts) als dickes Minus bemerkbar.

Fehlende Diskquota macht es Systemverwaltern unmöglich, den Plattenplatz für Anwender zu beschränken. Unter Unix und Netware ist dies seit Jahren ein selbstverständliches Feature.

Dateisysteme können nicht wie unter Unix in einen Verzeichnisbaum gemountet werden. Statt dessen gibt es weiterhin die von DOS her bekannte "Buchstabensuppe".

Verzeichnisdienste soll es erst in einer späteren Version von NT geben. Bis dahin herrscht das verwirrende und aufwendig zu verwaltende Domänenkonzept.

Uneinheitliches Treibermodell verlangt verschiedene Hardware-Treiber für Windows 95 und NT. Erst gegen Ende des Jahres soll das Win-32-Treibermodell Einheit stiften. Diese neuen Treiber laufen aber nicht unter den bis dahin verkauften Windows-Versionen.