Für mehr Augenmaß beim Datenschutz

02.06.1978

Prof. Dr. Peter Mertens, Universität Erlangen-Nürnberg

Binnen kurzer Zeit ist eine ganze "Datenschutzindustrie" entstanden. Große Kongresse zahlreiche Seminare, Fernsehsendungen, viele Kommentare zum Gesetz, neue Fachzeitschriften, neue Verbände, mehr als hundert Datenschutzbeauftragte in einem größeren Konzern, der bloße Hinweis auf den Datenschutz genügt, separate Klinikrechner in Universitäten zu begründen, weitgehend ohne Überlegungen, inwiefern das technisch und wirtschaftlich richtig ist. Dazu neue Ämter, viele Beamtenstellen, ein erheblicher Beitrag zur Gesetzes- und Verordnungsflut, erste Querulanten.

Viele dieser Aktivitäten werden helfen, daß wir mehr über personenbezogene Daten und die Technik ihres Schutzes wissen. Jedoch gibt es in der "Datenschutzszene" auch viele Anzeichen für einen ungesunden Boom. Symptomatisch dafür erscheint das Festbeißen an Details, ohne daß man vorher die Bedeutung der Themen in der Praxis untersucht hätte. Es fällt auf, wie verlegen man um wirklich besorgniserregende Beispiele ist, wenn die Gefahren der EDV für den Datenschutz belegt werden sollen. In der Literatur stößt man immer wieder auf das gleiche Repertoire weniger Fälle von übertriebenem Adreßhandel, Marktforschungsaktionen von Verkehrsgesellschaften mit unnötigen Fragen zu den familiären Verhältnissen oder vereinzelte Pannen bei Kreditauskünften. Mancher Autor dürfte sich schwer tun die von ihm behaupteten Beispiele zu beweisen, vieles könnte sich als immer wieder weitergegebenes Gerücht herausstellen. Auf dem OECD-Symposium über internationale Datenströme wußten die Teilnehmer kaum ein praktisches Beispiel zu einer schlimmen Verletzung von Persönlichkeitsrechten durch internationale Datenflüsse zu nennen.

Charakteristisch erscheinen mir auch Widersprüche zwischen Reden und Handeln in der Politik.

- Fernschreiben mit wohl entscheidenden Hinweisen auf das Versteck Schleyers gingen verloren, dafür gelangte der Name von Bürgern, die diese Hinweise gegeben hatten, an die Öffentlichkeit. Diese Bürger befinden sich jetzt in Lebensgefahr. Man sollte vermuten, daß diese Vorfälle in Datenschutzkreisen heftig diskutiert und der zuständige Innenminister Hirsch zur öffentlichen Rechenschaft gezogen wird. Aber nein, Hirsch profiliert sich indessen als Befürworter einer Reglementierung komplizierter internationaler Datenbewegungen, sein Auftreten als Vortragender auf einem Datenschutzkongreß wird als "Volltreffer" bejubelt.

- Der SPD-Abgeordnete Stahl forderte dazu auf, Namen Adressen, Parteizugehörigkeit Beruf etc. von Bürgern, die ein Volksbegehren unterstützten, der Partei zu melden. Man möchte annehmen, daß die sozial-liberale Bundesregierung, die das Bundesdatenschutzgesetz als einen ihrer Erfolge darstellt, sich von diesem Abgeordneten abwendet. Weit gefehlt, kurz nach dem Vorkommnis wird der gleiche Parteifunktionär zum Staatssekretär in dieser Regierung ernannt.

- In Pressearchiven (von den Karteien und Dateien der Verfassungsschutzbehörden und ähnlichem einmal ganz abgesehen) sammeln sich wirklich sensible personenbezogene Daten, oft genug von zweifelhaftem Wahrheitsgehalt. Sie sind vom Bundesdatenschutzgesetz weitgehend ausgenommen. Man mag das aus höherrangigen Gründen gutheißen, nur: Der "Datenschutzkessel" hat damit ein großes Loch, und bekanntlich kann man in einen solchen Kessel noch so viel Dampf blasen unter Druck kann man ihn dadurch nicht setzen.

So gut wie noch gar. nicht diskutiert ist die Grundsatzfrage, ob mehr Datenschutz oder gar mehr Liberalität im Umgang mit persönlichen Daten für unsere Gesellschaft besser ist. Nehmen wir beispielsweise das Steuergeheimnis, etwa in Verbindung mit dem . aktuellen Fall in Bayern, wo der Finanzminister' selbst den Landtag nicht im einzelnen darüber informiert, wer welche vom Rechnungshof beanstandeten Vergünstigungen in welcher Höhe erhalten hat. Ist es wichtiger, geheimzuhalten, wenn ein Bürger die Gemeinschaft um ihr rechtlich zustehendes Geld bringt, oder zu offenbaren, wer in welchem Maß zur Finanzierung der Gemeinschaft beiträgt? Und selbst wenn man von Steuern auf das Einkommen schließen kann, ist die Geheimhaltung der Einkommen so wichtig, oder würde nicht Transparenz auf diesem Gebiet etwa geeignet sein, Diskussionen über ungerechtfertigte Einkommensunterschiede ebenso wie solche über ungerechtfertigte Nivellierung zu versachlichen?

Die vielen symptomatischen Widersprüche im Grundsätzlichen sprechen dafür, technokratische Details des Datenschutzes mit wesentlich weniger Hektik anzugehen, als es zur Zeit der Fall ist. Man sollte sorgfältig die Realität beobachten, Erfahrungen sammeln und längerfristige, modische Überhöhungen vermeidende Lernprozesse einleiten. Hilfreich wäre eine empirische Untersuchung über das tatsächliche Ausmaß von Verletzungen der Persönlichkeitssphäre, damit wir den praktischen Stellenwert des Datenschutzes, so wie er zur Zeit behandelt wird, abschätzen können. Vielleicht erleben wir dann ähnliche Überraschungen wie die US Privacy Protection Study Commission, die ihre Arbeit mit ganz schlimmen Vorstellungen über große und geheime betriebliche Datenbanken voller sensibler Mitarbeiterdaten begann, dann aber nur herausfand, daß im wesentlichen alle Unternehmen nur jene Daten speicherten, die sie für die Lohnabrechnung und für die gestzlichen Personalstatistiken brauchten.