SNA-Fortschritte lassen das Festhalten an DPPX als Sackgasse erscheinen:

Für 8100-Kunden ist die Migration vergiftet

04.03.1988

MÜNCHEN - In der Klemme befinden sich derzeit etliche IBM-Kunden, die auf den Abteilungsrechner 8100 gesetzt haben: Zwar will Big Blue eine Portierung der Anwendungen auf die 9370 unter dem alten Betriebssystem ermöglichen, doch trauen die Anwender dem DPPX-Frieden nicht so recht - Ó la longue, so fürchten sie, könnten sie gleichwohl in der Sackgasse landen. Eine Lösung des Problems ist freilich nicht in Sicht.

Mit Spannung warten die von IBM in den vergangenen zwei Jahren nicht gerade verwöhnten 8100-Benutzer nunmehr auf die Vollzugsmeldung ihres Lieferanten: die gelungene Transplantation des 8100-Betriebssystems DPPX in den Abteilungsrechner 9370. Auf der Ersatzmaschine für die sterbende 8100 soll DPPX den Kunden mit dezentraler Datenverarbeitung künftig "native" zur Verfügung stehen.

Damit unternimmt der Branchenriese erstmalig den Versuch, ein Betriebssystem komplett von einer Rechnerarchitektur auf eine andere zu übertragen. "Dies wurde dadurch möglich", erläutert Albert Henne, bundesweit zuständiger Manager für die DPPX-Systemberatung in der IBM-Niederlassung Hamburg, "weil DPPX eines der wenigen Betriebssysteme der IBM ist, die vollständig in einer dem PL/ 1 ähnlichen Makro-Sprache geschrieben wurden.

Den größten Teil der Systemsoftware konnten wir rekompilieren, die Hardware-spezifischen Komponenten für die 9370 wurden neu geschrieben."

Doch bereits eine Woche vor der offiziellen Ankündigung deuten alle Zeichen auf Sturm: Die wichtigsten Funktionen wie APPC und APPN (Advanced Program to Program Communication/Networking) werden im ersten Release nicht enthalten sein, obwohl LU6.2 für die internen IBM-Programme verfügbar und somit zumindest verdeckt im System vorhanden ist. Darüber hinaus muß die 8100-Klientel vorerst auf einen DCA-fähigen Text-Editor, einen PC-Server und auf die Adressierfähigkeit oberhalb der 16-MB-Grenze verzichten. Auch werden Bildschirme, die über Ringleitungen an eine 8100 angeschlossen sind, derzeit im neuen 9370-Konzept nicht direkt unterstützt. Will der Kunde diese Bildschirme behalten, benötigt er einen 8100-Rechner als Terminal-Controller mit SDLC-Anschluß.

Alles in allem entspricht das frisch portierte Betriebssystem, das als lauffähiges DPPX/9370-Gespann auf dem diesjährigen CeBIT in Hannover zu sehen sein soll, in seiner Funktionalität dem seit einem Jahr verfügbaren DPPX/SP Release 4. Die wenigen Erweiterungen beschränken sich auf die Unterstützung von Hardware-Komponenten der 9370, beispielsweise Token-Ring.

Unter den betroffenen Anwendern macht sich ob solcher Tatsachen unverhohlene Skepsis breit. Viele befürchten, mit einem Betriebssystem, das seit 1985 funktionell nicht mehr weiterentwickelt wurde, trotz Portierung auf die 9370 in einer Sackgasse zu landen. Alle anderen Betriebssysteme der IBM hätten inzwischen bedeutend mehr Funktionen anzubieten. Spätestens seit den Netview-Ankündigungen sei der Vorsprung von DPPX in einer DDP-Umgebung völlig zusammengeschmolzen.

Auch für IBM-Manager Henne gibt es keinen Zweifel daran, "daß die anderen Betriebssysteme aufgeholt und wir bei der DPPX-Entwicklung Jahre verloren haben. Aber jetzt sind wir aus dem Tal heraus." Den Vorwurf, möglicherweise in eine Sackgasse zu steuern, weist der DPPX-Profi allerdings energisch zurück: "Wenn man kein Vertrauen in die 370-Linie der IBM hat, woran soll man dann noch glauben."

Dennoch: Vielen 8100-Benutzern steckt das IBM-Announcement vom Februar 1986, die Hardware-Entwicklung der 8100 auf Eis zu legen, noch als Schock in den Knochen. Erinnert sich EDV-Vorstand Klaus Hofmann von der R+V Versicherungsgruppe, Wiesbaden: "Wir fühlten uns wie vor den Kopf gestoßen. Als die IBM zudem mitteilte, daß sie etwa ein Jahr brauchen werde, um zu evaluieren, welche Lösung sie den betroffenen Kunden anbieten wird, war mein Vertrauen in das Unternehmen angeknackst."

Damals zog der DPPX-Pionier, der dem System seit 1980 die Stange halt, ernsthaft einen Herstellerwechsel in Betracht. Dies scheiterte Hofmann-Angaben zufolge jedoch am Unvermögen namhafter Computerbauer, die bestehende Anwendungssoftware mit akzeptablem Aufwand an Zeit und Kosten zu transferieren. Hofmann: "Wir haben uns 1987 bei anderen Herstellern wie Nixdorf, DEC, Wang oder Tandem nach Lösungen umgeschaut. Aber niemand - und das war das Entscheidende - konnte die Frage der Migration befriedigend lösen."

Gleichwohl liebäugeln heute viele 8100-Benutzer mehr denn je mit einem Systemwechsel. Dazu zählt etwa die Standard Elektrik Lorenz AG; Näheres wollen die Stuttgarter derzeit noch nicht bekanntgeben. SEL-Kenner munkeln jedoch, DEC habe große Chancen, sich diesen Auftrag zu sichern.

Auch beim Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerk in Essen finden nach nahezu zehnjährigem Einsatz Nachfolge-Überlegungen zum System 8100 statt. DV-Leiter Wilfried Pohl beleuchtet das Problem derzeit von zwei Seiten: "Wir untersuchen zum einen, welche Alternativen sich anbieten, und zum anderen was wir künftig überhaupt brauchen."

Claus Badenhop, DV-Leiter der Deutschen Angestellten Krankenkasse, Hamburg, sieht die Dinge ähnlich: "Wir stoßen mit der 8100-Maschine im Zuge unserer Entwicklungsarbeiten an Grenzen. Da heißt es, ein wie auch immer geartetes System zu finden, mit dem man weiterarbeiten kann und bei dem die bislang getätigten Software-lnvestitionen nicht verlorengehen. Dies werden wir untersuchen."

Allerdings sind sich die meisten DDP-Anwender über die Crux bei einem Herstellerwechsel im klaren und haben innerlich bereits resigniert. DAK-Mitarbeiter Badenhop bringt die Problematik auf den Punkt: "Ohne große Investitionen im Bereich der Software zu tätigen, sehe ich derzeit keine andere Chance, als den von IBM aufgezeigten Weg mit der 9370 zu beschreiten."

Auch Klaus Hofmann von der R + V hält diesen Schritt zwar nicht für die einzige Alternative, "aber für die sinnvollste". Gleichwohl ist er künftig von weiteren Migrationssorgen befreit - er verlaßt das Unternehmen zum 31. August 1988.