Führt das Jahr-2000-Problem 350000 Firmen in die Pleite?

23.07.1999
Das Jahr-2000-Problem ist im Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit angekommen, spätestens seit Sabine Christiansen sich der Thematik annahm. Auf einer von der COMPUTERWOCHE gemeinsam mit der "Süddeutschen Zeitung" organisierten Podiumsdiskussion wurde schnell klar, was Nichtexperten am meisten interessiert: Welche Auswirkungen hat das Computerproblem für die Wirtschaft? Ist die Energieversorgung beim Wechsel zum 1. Januar 2000 und danach gewährleistet? Kann man sich unbesorgt den Krankenhäusern anvertrauen?

Elisabeth Slapio, Geschäftsführerin und Jahr-2000-Beauftragte der Industrie- und Handelskammer (IHK) Köln, malte gleich zu Beginn der Veranstaltung ein recht düsteres Bild: Untersuchungen der IHK Köln deuten darauf hin, daß bis zu zehn Prozent aller kleinen und mittelständischen Betriebe wegen des Jahr-2000-Problems in die Pleite schlittern könnten.

"Unsere Zahlen vom vergangenen Sommer waren dramatisch", sagte Slapio mit Bezug auf die im Kammerbezirk der IHK Köln seit 1996 vorgenommen Erhebungen. Mit rund 100 000 Firmen umfaßt die IHK Köln nicht nur den größten bundesrepublikanischen Kammerbezirk. Seine Firmenmixtur kann auch als prototypisch gelten: Ein Drittel sind große Unternehmen, zwei Drittel kleine und mittelständische Betriebe, darunter Firmen mit nur ein bis zehn Mitarbeitern.

Rund 45 Prozent aller Firmen glaubten Ende 1998 nicht, die Jahr-2000-Umstellung bis Ende 1999 zu schaffen. Ein Drittel hiervon hatte sich mit dem Problem überhaupt noch nicht beschäftigt. Ein weiteres Drittel befand sich in der Testphase, wußte aber nicht, wie diese Versuche ausgehen würden. Das letzte Drittel steckte in der Vorbereitung.

"Diese Zahlen," warnte Slapio, "sind nicht deutlich besser geworden." Bis vergangene Woche hatten rund 61 Prozent der Firmen alle möglichen Vorbereitungen auf eine rechtzeitige Umstellung getroffen. Sie werden zum unverrückbaren Stichtag mit den gesamten Arbeiten fertig sein. Bei 39 Prozent ist das hingegen alles andere als sicher.

Die Frage, ob diese Firmen schlimmstenfalls von Pleiten bedroht sind, beantwortete Slapio mit einem Ja und Nein: "Wer gar nichts macht, der wird zum Jahreswechsel mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Problem haben, weil entweder in der Datenverarbeitung, in der Haus- und Gebäudetechnik oder im Peripheriebereich etwas nicht funktionieren wird." Die Störungen seien dabei oft ganz einfacher Natur. So könnten Unternehmen beispielsweise mit der Tatsache konfrontiert werden, am Montag, den 3. Januar 2000, dem ersten Arbeitstag des neuen Jahres also, Abrechnungen an Kunden nicht abschicken zu können.

Eine große Schwierigkeit sieht Slapio auch in der Verkettung von Wirtschafts- und Produktionsabläufen: "Die von uns geschätzten etwa zehn Prozent der Unternehmen, die zum Jahresbeginn definitiv ein Jahr-2000-Problem haben, können auch Kettenreaktionen auslösen." Bekannt sei der Fall des Autotürschloßlieferanten Kiekert. Dieser konnte 1998 nicht an Ford liefern. Prompt stand bei dem Kölner Autohersteller die Produktion für eine gewisse Zeit still. Ergebnis: zwei Millionen Mark Umsatzausfall. Folgert Slapio: "Der kleinste Betrieb in einer Kette von Produktions- und Wertschöpfungsunternehmen kann auch den größten Konzern lahmlegen."

Besorgniserregend ist auch die Tatsache, daß die im Kammerbezirk der IHK Köln gefundenen Ergebnisse auf die gesamte Bundesrepublik hochgerechnet werden können. Zehn Prozent Firmenpleiten sind laut Slapio landesweit nicht auszuschließen. "Wenn auch nur ein Prozent aller 3,5 Millionen bundesrepublikanischen Unternehmen die Kurve nicht bekommt, dann bedeutet das Gefahr für viele Arbeitsplätze, dann wirkt sich das auf Strukturentscheidungen aus. Das gefährdet die Aufbauarbeit von zahllosen Existenzgründern, die vielleicht im genau richtigen Moment neue Unternehmen geschaffen und damit Arbeitsplätze kreiert haben. Die können nun in Schwierigkeiten geraten."

In diesem Fall dürften auch andere Industriezweige betroffen sein. Patrick Illinger, Redakteur der "Süddeutschen Zeitung" und Moderator der Podiumsdiskussion, zitierte den Vertreter einer Großbank, der meinte: "Wenn diese Zahlen zutreffen, dann geht auch unsere Bank kaputt."

Entsprechend vordringlich und mit immensem finanziellen Aufwand bearbeiten Unternehmen weltweit das Jahr-2000-Problem. General Motors wird zwischen 710 und 780 Millionen Dollar nur dafür ausgeben, daß alles so weitergeht wie bisher. BMW investiert zwischen 300 und 400 Millionen Mark in die Jahr-2000-Tauglichkeit seiner Computer und seiner Hausinfrastruktur. Die Frankfurter Flughafen AG läßt sich das Umstellungsengagement in Sachen Y2K (Y2K steht für die englische Abkürzung Year 2 Kilo, also Jahr 2000) 50 Millionen Mark kosten.

Nikolaus Dewald, Projektkoordinator Jahr-2000-Umstellung bei der Bayernwerk AG in München, bezifferte die Umstellungskosten in seiner Firma ebenfalls auf 50 Millionen Mark: "Den größten Teil davon investieren wir mit 20 Millionen Mark in unsere administrative DV."

Klaus Brunnstein, Professor am Fachbereich Informatik, Universität Hamburg, sagte, die Deutsche Bank habe in ihr Jahr-2000-Projekt insgesamt 1,2 Milliarden Mark investiert, die Dresdner Bank allein für ihre Software 250 Millionen Mark: "Das sind offizielle Zahlen, die auf Hauptversammlungen bekanntgegeben werden."

Nach einer Hochrechnung des Marktforschungsinstituts IDC werden US-Firmen insgesamt zirka 122 Milliarden Dollar für die Jahr-2000-Bewältigung ausgeben. Das sind grob 235 Milliarden Mark und damit fast die Hälfte des gesamten bundesrepublikanischen Haushalts.

Slapio betonte, daß auch kleine und mittelständische Unternehmen sehr tief in die Taschen greifen müßten, um ihre Datenverarbeitung umzustellen und überprüfen zu lassen, ob beispielsweise ihre Gebäudetechnik sicher ist. Je länger diese Unternehmen warten würden, desto teurer werde eine eventuelle Umstellung.

Slapio kritisierte, die Bundesregierung habe sich der Problematik nicht rechtzeitig angenommen: "Es wurden von oberster Stelle viel zu spät Informationen ausgegeben. Das ist insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen problematisch." Wäre von offizieller Seite rechtzeitig eine Stellungnahme erfolgt, hätten die DV-Verantwortlichen auch in nicht so finanzstarken Firmen zu ihren Chefs gehen und glaubwürdiger darstellen können, daß es sich beim Y2K-Sachverhalt um ein ernstes Problem handelt, für dessen Lösung eine Menge Geld investiert werden muß.

"Die Bundesregierung zieht es vor, nichts zu tun"

Noch deutlicher wurde Brunnstein. Die alte wie die neue Bundesregierung seien bezüglich der Y2K-Problematik außerordentlich schlecht beraten. Unter Kanzler Gerhard Schröder hätte man die Chance gehabt, alles nachzuholen, was die Kohl-Regierung versäumt habe. Anders als die obersten politischen Verantwortlichen in den USA unter Vizepräsident Al Gore habe es die Bundesregierung jedoch vorgezogen, nichts zu tun. Moniert Brunnstein: "Der Bundeswirtschaftsminister hat seine Vorbildfunktion nicht wahrgenommen, und der Bundeskanzler läßt durch Herrn Hombach mitteilen, in Deutschland herrrsche dezentrale Problemlösungskompetenz."

Diese Haltung könnte sich etwa im öffentlichen Bereich rächen. Der Fortschrittsbericht der Bundesregierung zum Stand der Jahr-2000-Vorbereitungen in der Bundesrepublik vom April dieses Jahres räumt ein, im Gesundheitswesen und insbesondere in Krankenhäusern gebe es Anlaß zur Sorge.

Dieter Gerhard vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) in Bonn sagte, Ärzten und Krankenhausleitungen sei das Jahr-2000-Risiko sehr wohl bewußt. Schließlich gehe es hier um Gefahr für Leib und Leben.

Gerhard schilderte Erfahrungen, die er auf zwei Fachtagungen zum Thema Jahr-2000-Problematik im Gesundheitswesen beziehungsweise in Krankenhäusern gemacht habe.

Auf die Frage, wer denn in seinen Hospitälern schon ein Jahr-2000-Projekt unterhalte, hätten sich 90 Prozent gemeldet. Nur etwa 75 Prozent äußerten sich jedoch optimistisch, noch rechtzeitig vor dem 1. Januar 2000 mit der Inventarisierung möglicherweise betroffener Gerätschaft sowie deren Umstellung und nachfolgenden Tests zu Rande zu kommen. Gerhard: "Nicht alle Bereiche im Krankenhaussektor werden rechtzeitig fertig."

Krankenhäuser sind schlecht vorbereitet

Der BSI-Experte machte auch die Hersteller von krankenhaustechnischen Apparaturen verantwortlich für die besorgniserregende Situation in deutschen Hospitälern: "Die haben Anfragen bezüglich der Jahr-2000-Festigkeit ihrer Produkte nicht ausreichend beantwortet."

Beim gern zitierten Beispiel der Herzschrittmacher allerdings teilten sich auf dem Podium die Meinungen. Gerhard sagte, die beiden großen Anbieter von Herzschrittmachern hätten auf ihren Internet-Seiten bereits Entwarnung geben können. Allerdings schränkte der BSI-Mann ein, sicher gebe es kleinere Hersteller, von denen man noch keine Informationen habe.

Brunnstein kritisierte demgegenüber, die Medizin habe es versäumt, Patienten von Herzschrittmachern durch geeignete Informationen die verständliche Angst zu nehmen: "Ich habe viele Kliniken angerufen und gefragt, ob sie ein Merkblatt für solche Patienten haben. Das ist nicht der Fall." Ärzte und Krankenhäuser kämen ihrer Aufklärungspflicht nicht nach.

IHK-Geschäftsführerin Slapio mahnte allerdings, eine "Hatz auf Ärzte" sei nicht angebracht. Wenn diese jetzt alle Briefe und Anfragen bearbeiten müßten, kämen sie nicht mehr dazu, ihre eigentliche Arbeit zu erledigen.

Bezüglich der Y2K-Probleme in Krankenhäusern wandte Gerhard darüber hinaus ein, um unnötiger Panikmache zu begegnen, sei "es wichtig zu fragen, wie viele Geräte in Krankenhäusern tatsächlich in lebenserhaltenden Bereichen eingesetzt werden". Jedes Krankenhaus wisse, daß Geräte ausfallen könnten und entsprechende Hilfsmittel parat stehen müßten. "Es ist nicht so, daß der Patient halt Pech gehabt hat, wenn ein Gerät abstürzt. Neben jeder Herz-Lungen-Maschine liegt beispielsweise auch ein Handbeatmungsbeutel."

Trotzdem blieb Informatikprofessor Brunnstein bei seiner kritischen Haltung: "Es hat Y2K-Simulationen in Krankenhäusern gegeben. Dabei haben reihenweise Geräte versagt." Wie Gerhard warnte Brunnstein, auf die Beteuerungen der Medizintechnikhersteller, ihre Geräte seien sicher, könne man sich eigentlich nicht verlassen, "fatalerweise bleibt den Kliniken aber gar nichts anderes übrig". Unternehmen wie die Bayernwerk AG etwa könnten ihre Geräte in Tests auf Zeitreisen schicken. Bis auf wenige große Spitäler seien in Krankenhäusern solche Testprozeduren aber nicht machbar.

"Generell", fuhr Brunnstein fort, "gibt es in unseren Krankenhäusern, das muß ich ganz hart sagen, keine Kompetenz in Sachen Jahr-2000-Problematik." Experten könnten sich die Hospitäler nicht leisten. Die guten Fachleute seien von den großen Industrieunternehmen weggekauft worden. Kliniken zahlten ausgewiesenen Informatikspezialisten auch nicht genug. Fatale Folge: "Wenn man das generelle Problem der Jahr-2000-Umstellung nicht versteht, dann kommt man eben auch zu spät."

Die Frage, ob die Energieversorger Deutschlands auf den Datumswechsel gut vorbereitet sind, beantwortete Bayernwerk-Projektkoordinator Dewald kurz und knapp: "Der Strom wird nicht ausfallen." Industrie- wie Privatkunden könnten davon ausgehen, daß alle Energieversorger dafür gesorgt hätten, die Situation in der Sylvesternacht und danach so geordnet abzuwickeln wie eh und je.

Die deutschen Energieversorger sind in einer nationalen Verbundgesellschaft zusammengeschlossen, die nationalen Verbände wiederum kooperieren in einem westeuropäischen Netz (Ucte) von Portugal bis Polen.

Die Ucte, so Dewald weiter, habe Maßnahmen für das Jahr-2000-Problem definiert. Dazu gehört etwa, daß die Primärregelreserve auf 3000 Megawatt ausgelegt ist. Bei der Primärregelreserve handelt es sich um die Stromversorgung, die im Fall eines technischen Versagens innerhalb von Sekunden wieder hochfährt. Sie wird in der Sylvesternacht vorsorglich auf 6000 Megawatt verdoppelt. Auch die Sekundärregelreserve werde um 50 Prozent erhöht.

Bei den weitreichenden Tests der Bayernwerk AG habe man festgestellt, daß in allen sicherheitsrelevanten Bereichen keine der gefürchteten Embedded-Chips im Einsatz sind.

Außerdem, so Dewald weiter, werde der bayerische Energieversorger in der Sylvesternacht seinen Bereitschaftsdienst wesentlich ausbauen: "In der zentralen Energieversorgung in Bayern etwa erhöhen wir unser Personal um den Faktor fünf." Und für den höchst unwahrscheinlichen Fall, daß doch etwas passiert, "können wir unser Netz und unsere Anlagen manuell bedienen".

Brunnstein bestätigte, die oft geäußerte Befürchtung sei kaum begründet, daß Kernkraftwerke zum Problemfall werden könnten. "Die Schnellabschaltung von Atommeilern funktioniert ohne Computer und somit auch ohne Probleme."

Trotzdem kritisiert der Hamburger Professor, daß hierzulande viele Verantwortliche so täten, als lebe man auf einer Insel der Glückseeligen. Alle, und eben auch die Energieversorger, behaupteten, man habe überhaupt keine Probleme.

Diese aber steckten unter anderem in der Leittechnik. Dort nämlich würden sich sehr viele Embedded-Chips verbergen, "und die hat man sicher nicht alle gefunden". Für diese gibt es häufig keine technischen Dokumentatio-nen, auch ihre genaue Funktionsweise ist Anwendern oft nicht ganz klar. Deshalb müsse man davon ausgehen, daß es wahrscheinlich viele kleine Ausfälle der Schaltstrecken geben werde. Im Klartext heißt das, der Strom in den ersten Stunden und Tagen des neuen Jahrs wird nicht die normale Qualität besitzen. Hiervon betroffen sein werden vor allem die Privatverbraucher und nicht die Krankenhäuser oder große Industrieunternehmen.

Bayernwerk-Mann Dewald konterte, in einer Sylvesternacht seien normalerweise fünf Kernreaktoren und ein Kohlekraftwerksblock in Betrieb. In der Sylvesternacht 1999/2000 hingegen liefen fünf Atomkraftswerksblöcke und acht Kohlekraftwerke. "Wir haben eher die Angst, daß Industrieunternehmen in dieser Nacht ihre Produktion abschalten und am Neujahrstag wieder hochfahren. In diesem Fall hätten wir nämlich das Problem, um Mitternacht vorübergehend ein Kraftwerk herunterfahren zu müssen."

Um diesem Dilemma aus dem Weg zu gehen, gibt es innerhalb der europäischen Energieversorgervereinigung Ucte die Regelung, Abnehmer zu fragen, wie hoch ihr jeweiliger Strombedarf sein wird, um so das Lastverhalten prognostizieren zu können. Diese Gespräche seien schon absolviert worden.

Diskutanten

Klaus Brunnstein, Professor am Fachbereich Informatik, Universität Hamburg;Nikolaus Dewald, Projektkoordinator Jahr-2000-Umstellung, Bayernwerk AG, München;Dieter Gerhard, Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), Bonn;Elisabeth Slapio, Geschäftsführerin und Jahr-2000-Beauftragte der Industrie- und Handelskammer (IHK) Köln;Jan-Bernd Meyer, Leitender Redakteur, Computerwoche, München;Patrick Illinger, Redakteur, Süddeutsche Zeitung, München (Moderation).