Führen muss gelernt werden

24.04.2001
Von Peter Wogenstein
Kostenrechnungen erstellen, Bilanzen lesen, Paragraphen interpretieren - das haben viele Informatiker bisher nicht gelernt. Deshalb steigen sie nur selten in die höchsten Ebenen der Unternehmenshierarchien auf. Neue Ausbildungsinhalte jedoch eröffnen Spezialisten Wege nach oben. Dabei ist die Personalarbeit nach wie vor der größte Stolperstein für die frisch gebackenen Führungskräfte.

Halb Genie, halb Wahnsinniger – dieses Klischee prägte bei vielen Unternehmensführern das Bild von Informatikern in den vergangenen Jahren. Zudem wurde ihnen ähnlich wie Ingenieuren und Naturwissenschaftlern oft Kontaktscheu und emotionale Schwäche unterstellt. Folglich übertrugen ihnen die Manager zwar die Wartung der Hard- und Software, in Führungspositionen gelangen Informatiker aber nur selten. Meist war für sie die Fachlaufbahn reserviert, bestenfalls wurde ihnen die Leitung der DV-Abteilung oder eines E-Commerce-Projekts übertragen. Die oberen Sprossen der Karriereleiter hingegen waren für Juristen und Betriebswirte vorgesehen.

Dass viele Topmanager Informatikern das Leiten größerer Unternehmensbereiche nicht zutrauten, liegt unter anderem daran, dass den DV-Experten während des Studiums meist wenig betriebswirtschaftliches Know-how vermittelt wurde. Auch in das Einmaleins der Personalführung wurden sie nicht eingeweiht. Außerdem dominierte in den 80er und 90er Jahren die Einstellung: Primär das Marketing und der Vertrieb seien für den Unternehmenserfolg entscheidend. Deshalb stiegen eher „smarte“ Marketing-Experten als „spröde“ Computerspezialisten oder Ingenieure in die oberen Führungsetagen auf.

Unternehmensführer haben mittlerweile aber erkannt, dass auch in der Firmenspitze Experten gefragt sind, die mit ihrem Sachverstand einschätzen können, wie die technologischen Entwicklungen in den kommenden Jahren verlaufen werden, welche Marktveränderungen sich hieraus ergeben und welche Ansatzpunkte für das Entwickeln neuer Produkte und Verfahren daraus resultieren. Zudem erkennen die Manager, dass in ihren Unternehmen inzwischen fast alle Produktions- und Verwaltungsprozesse computergestützt ablaufen.

In vielen Unternehmen reift die Erkenntnis, dass auf allen Hierarchieebenen und in fast allen Unternehmensbereichen fundiertes IT-Know-how vorhanden sein muss. Folglich gelangen immer mehr Informatiker in qualifizierte Führungspositionen. Dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird, zeigt ein Blick auf die Zusammensetzung der Förderkreise, mit denen die Unternehmen qualifizierte Nachwuchskräfte auf komplexe Führungspositionen vorbereiten. In ihnen sind heute viel mehr Informatiker als vor wenigen Jahren vertreten.

Ungeachtet dessen ist die Übernahme einer Führungsposition ein tiefer Einschnitt in der beruflichen Laufbahn eines IT-Spezialisten. Meist erfolgt der Berufseinstieg über eine Fachfunktion. Erst wenn der Computer-Profi darin und in mehreren Projekten seine Fähigkeiten bewiesen hat, erfolgt der Wechsel in eine Führungsposition. Dann ist er plötzlich mit ganz neuen Anforderungen konfrontiert.

Als Fachkraft war vor allem das technische Know-how gefragt. Eine Führungskraft hingegen muss nicht mehr in erster Linie fachliches Können beweisen - statt Spezialist soll sie nun Generalist sein. Ihre zentrale Aufgabe ist es, ihren Bereich mit Erfolg zu führen, was ein breiteres Wissen als eine reine Fachfunktion voraussetzt. Nötig ist hierfür unter anderem betriebswirtschaftliches Know-how. Schließlich zählt es zu den Aufgaben eines Bereichsleiters, Kostenrechnungen oder Kalkulationen zu erstellen und betriebswirtschaftliche Kennzahlen zu interpretieren. Sonst kann er nicht sicherstellen, dass sein Bereich effizient und profitabel arbeitet.

Außerdem brauchen Bereichsleiter juristische Kenntnisse - nicht nur auf personalrechtlichem Gebiet. Auch auf anderen Feldern - wie zum Beispiel Umweltrecht, Produkthaftung und -sicherheit oder Urheberrecht - ist ein Überblickswissen von Vorteil. Nicht nur, weil Manager zum Teil selbst Verträge aushandeln und abschließen, sondern auch weil gerade in Produktionsbetrieben aus den gesetzlichen Vorgaben Betreiberpflichten resultieren. Nur wenn die Führungskräfte diese kennen, können sie daraus Anforderungen an die Arbeit ihrer Mitarbeiter ableiten.

Entsprechende Wissenslücken bereiten IT-Experten in der Startphase als Führungskraft oft einiges Kopfzerbrechen. Derzeit stellen sich jedoch diese Anfangsschwierigkeiten immer seltener ein, da sich zum einen die Informatikstudiengänge gewandelt haben. So sind inzwischen betriebswirtschaftliche und juristische Lerninhalte in vielen Lehrplänen enthalten. Gestiegen ist zum anderen die Zahl der Weiterbildungsangebote für Informatiker. Fast jedes renommierte Management-Institut hat einen Intensivkurs „General Management“ im Programm.

Während betriebswirtschaftliche und juristische Kenntnisse durch Seminare oder Buchlektüren erworben werden können, erfordert der Bereich Personalführung praktische Formen der Einarbeitung. So müssen die neuen Manager das Wissen, die Stärken und das Leistungspotenzial ihrer Mitarbeiter richtig einschätzen. Nur dann können sie diese optimal einsetzen und ihre Zusammenarbeit richtig koordinieren. Außerdem müssen sie mit ihren Mitarbeitern Ziele für ihre Arbeit vereinbaren und ihnen ein Feedback über die gezeigte Leistung geben.

Da Menschen und soziale Systeme keine Computer sind, kommt man im Umgang mit ihnen mit einer Wenn-dann-Logik meist nicht weit. Hier gilt es vielmehr, abhängig von der Situation und vom Gegenüber, völlig verschiedene Verhaltensmuster an den Tag zu legen. Dies zu akzeptieren, fällt vielen Informatikern, die plötzlich Führungsfunktionen wahrnehmen, anfangs schwer. Sie wurden wärend ihrer Ausbildung nicht für die Vielschichtigkeit menschlichen Handelns sensibilisiert.

Deshalb gelingt es ihnen nicht, einen „situativen Führungsstil“ zu praktizieren, bei dem sie einerseits adäquat auf die jeweilige Situation und Person reagieren, andererseits ihren persönlichen Führungsstil bewahren und zugleich die Unternehmens- und Bereichsziele angemessen berücksichtigen. Häufig besteht bei ihnen die Gefahr, dass sie unsicher werden und einen widersprüchlichen Führungsstil zeigen. Oder umgekehrt: Sie halten starr an einem Verhaltensmuster fest, obwohl die Situation eine andere Reaktion erfordern würde.

Deshalb sollten Informatiker mit Aussicht auf Führungspositionen allmählich an die neuen Aufgaben herangeführt werden - zum Beispiel, indem man ihnen zunächst die Leitung von Projekt- oder Arbeitsteams überträgt. Ebenso wichtig ist es, die Führungskräfte in der neuen Position zu begleiten. Hierfür gibt es viele Möglichkeiten. Unter anderem kann der jungen Führungskraft ein Coach oder ein Mentor zur Seite gestellt werden, mit dem sie über Führungsprobleme sprechen und an der neuen, professionellen Rolle arbeiten kann. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, einen Förderkreis für junge Manager zu etablieren, in dem gezielt über Führungsprobleme diskutiert wird.

Wichtig ist aber auch der Aufbau einer Unternehmenskultur, in der Führungsprobleme kein Tabuthema sind. Das ist in vielen Unternehmen jedoch der Fall. Dort können die Führungskräfte zwar jederzeit eingestehen: „Ich habe ein technisches oder juristisches Problem.“ Tabu ist es aber, dass eine Führungskraft sagt: „Ich komme mit meinen Mitarbeitern nicht klar.“ Solche Probleme muss jeder Manager in der Regel für sich lösen, und auch junge Führungskräfte müssen den Sprung ins kalte Wasser wagen.