Briefe

Frust ohne Ende

29.09.2000
betrifft: CW 36/00, Seite 7: "Tchibo ist überall" (Kolumne)

Der Kommentar spricht mir voll aus der geschundenen Entwicklerseele, wobei ich den Fokus durchaus noch etwas größer ansetzen will - bei den kompletten IT-Systemen.

Vorweg, und um meinen Frust verständlich zu machen: Ich bin mit 49 Jahren ein "alter" Entwickler. Ende der 70er war ich unter anderem in dem Team, das bei Siemens für die Dresdner Bank eine eigene Variante des Siemens-Betriebssystems BS1000 entwickelt hat. Worauf damals extremer Wert gelegt wurde: Das System durfte innerhalb eines Jahres lediglich einige Stunden ausfallen. Das Ziel wurde erreicht.

Mittlerweile bin ich seit drei Jahren Telebanking-Kunde der Dresdner Bank, und mein Frust kennt kein Ende. Das System ist bei fast jedem Monatswechsel für Stunden, zuweilen für Tage, nicht verfügbar. Letzter Clou: Mit der Begründung "Am Wochende werden alle Server ausgetauscht" wurde ich von Donnerstag früh auf Montag früh vertröstet! Vor 20 Jahren hätte man uns in so einem Fall die Rechner auf den Hof gestellt - heute ist das wohl normaler IT-Alltag. In den letzten Jahren wurden schon mehrfach "alle Server ausgetauscht" beziehungsweise "massiv aufgestockt", ohne dass sich dadurch fundamental etwas geändert hätte.

Als Service werden dann "Hotlines" angeboten, die von der eigenen IT-Abteilung absolut im Dunkeln gelassen werden, so dass lediglich die freundliche Antwort kommt: "Über Störungen ist uns nichts bekannt." Da heult die arme Entwicklerseele auf. Man wird vollgepflastert mit Artikeln über Ausfallsicherheit, Hot-Standby-Systeme, wunderbar lange Abstände zwischen zwei IT-Fehlern (Mean Time Bitween Failures = MTBF), die Verfügbarkeitsprognosen dümpeln zwischen 99,9995 und 99,9996 dahin - nur die Praxis ist leider eine andere.

Szenenwechsel - meine Autoversicherung. Zum Glück habe ich selten damit zu tun. Neulich hörte ich aber bei drei Anrufen zweimal den gewundenen Spruch: "Es tut mit Leid, aber der Rechner geht gerade nicht - rufen Sie doch bitte später nochmal an."

Szenenwechsel - Netzadministration einer großen deutschen Bankvereinigung. Früher waren alle Geldautomaten lokal an der Filiale angebunden. Bei Ausfall eines Netzes waren somit nur die Geräte einer Filiale betroffen. Nun werden alle Geräte eines Bundeslandes über einen Knoten bedient - natürlich supertolle Teile mit Hot-Standby und allem Klimbim. Leider gab es da einen Fehler in der Backup-Software mit dem Erfolg, dass ein ganzes Bundesland darniederlag - geldautomatenmäßig.

Szenenwechsel - eine WIN-NT-Server-Farm. Zirka 1000 Rechner, die einen großen Bereich mit Softwaredienstleistung abdecken. Zumindest zeitweise konnte sich die RZ-Mannschaft nur helfen, indem sie jeweils mittags alle Server neu bootete, um sporadische Abstürze am Nachmittag zu verhindern.

Kurz und nicht so gut: Vor lauter Neuerungen und Schnell-schnell werden Systeme (egal ob Hardware, Betriebssysteme, Anwenderprogramme) in immer kürzeren Zyklen auf den Markt geworfen, für wenig bis kein Geld. Teilweise werden nicht dafür vorgesehene Betriebssysteme in kritischen Bereichen eingesetzt, wobei die Mentalität vieler (nicht aller!) jüngerer Kollegen ("Kein Problem, da fahren wir den Server halt einfach neu hoch") privat ja durchaus akzeptabel sein kann (für mich ist sie das immer noch nicht), im Server-Bereich aber eben absolut fehl am Platze ist.

Christopher Bodirsky, Chris.Bodirsky@compuserve.com