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Freenet - Ein anonymes Netzwerk gegen Zensur und Überwachung

30.06.2000
Das neue alte Internet

MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Anarchie und Gesetzesbruch fürchten Kritiker, wenn ein britisches Internet-Projekt Erfolg hat. "Freenet" heißt programmatisch ein Vorhaben, das totale Anonymität und das Ende des Copyright zum Ziel hat. Heute erscheint am Kiosk das neue "COMPUTERWOCHE Spezial: Sicher in die New Economy", das sich mit schwerpunktmäßig mit IT-Sicherheit und Schutz der Privatsphäre (oder neudeutsch "Privacy") auseinandersetzt. Um Sie ein wenig neugierig zu machen, veröffentlichen wir an dieser Stelle einen Artikel von Harald Schiller*

Das Ziel des dezentralen Netzwerks gemahnt an die Urzeiten des Internet selbst: Kontrolle und Zensur im Internet zu verhindern. Völlige Anonymität verspricht der Kopf von Freenet, der 23-Jährige englische Programmierer Ian Clarke, den Nutzern. Während weltweit nach Möglichkeiten gesucht wird, Absender und Empfänger illegaler Inhalte zu belangen und den unautorisierten Vertrieb urheberrechtlich geschützter Werke über das Internet zu unterbinden, kündigen britische Technik-Freaks eine neue Dimension der Auseinandersetzung an: Wenn Freenet hält, was seine Initiatoren lautstark versprechen, dann verlässt der Geist jetzt die Flasche - und nichts und niemand wird ihn dorthin zurückbefördern können.

Vorbei an staatlichen Instanzen

Freenet bedeutet eine Weiterentwicklung von Programmen wie der MP3-Software "Napster" oder seines Open-Source-Cousins "Gnutella". Aber das Clarke-Projekt will auf der Basis eines dezentralen Netzwerks die völlige Freiheit des Informations- und Datenaustausches durchsetzen - ohne dass staatlichen Instanzen noch irgendwelche Kontroll- oder Einflussmöglichkeiten blieben. Erreicht werden soll das durch den Aufbau eines Parallel-Internets, eben des Freenet. Das Projekt steht für die dezentrale Verteilung von Text,- Video- oder Musik-Dateien auf privaten Rechnern. Clarke visiert die PCs von Enthusiasten an, welche die radikale Freenet-Idee unterstützen wollen - oder solche von Profiteuren, die - aus welchen Gründen auch immer - die Strafverfolgung fürchten. "Freenet ist perfekte Maschinen-Anarchie" tönen die Freenet-Pioniere.

"Lasst uns jegliche Form der Zensur abschaffen!" formuliert Clarke sein Credo. "Freenet wurde entwickelt, um Zensur unmöglich zu machen." Konzipiert wurde es als Open-Source-System, und die Datenübertragung durch Freenet basiert auf gleichberechtigten Knoten, die Informationen speichern und auf Anforderung unentgeltlich weitergeben - das selbe Prinzip wie das des Internets in seiner Frühzeit. Jeder PC-Besitzer mit Internetzugang kann das Java-Programm auf seinem Rechner installieren und den Freenet-Dateien Speicherplatz zuweisen. So gibt es bei Freenet - und das unterscheidet das Konzept vom Internet, wie wir es kennen - keine zentralen Server mehr, die auf Veranlassung eines Gerichts oder einer Regierung vom Netz genommen werden könnten.

Zudem werden alle Informationen zerhackt, so dass nicht einmal der Besitzer eines Rechners weiß, welche Daten auf seiner Festplatte aktuell aufbewahrt werden. Deshalb hält Ian Clarke eine Zerschlagung seines Netzes für ausgeschlossen: "Freenet zu beenden, würde die weltweite Abstimmung sämtlicher Regierungen erfordern, die das System ausschalten wollen. Sogar wenn das passierte, wäre es ziemlich schwierig, jeden Freenet-Knoten zu finden. Man müsste dafür jeden einzelnen Computer absuchen - was praktisch unmöglich ist."

Anarchisches Rechnergeflecht

Keinerlei Erfolgsaussicht hätte im Falle von Freenet beispielsweise der aktuelle Versuch der amerikanischen Musikindustrie, die urheberrechtlich umstrittene Verbreitung von MP3-Musikdateien durch die gerichtlich angeordnete Stilllegung der Server von Napster zu verhindern. Selbst die Freenet-Erfinder haben laut Clarke keine Möglichkeiten, Einfluss auf die Entwicklung ihres Netzes zu nehmen: Weil sich die Dateien in Kopien durch ein zufälliges Routing über das Netz der Teilnehmer ausbreiten, existiert jede Information weiter, auch wenn sie von einem einzelnen Server gelöscht wird. Aufschlüsse über Informationslieferanten und deren Nutzer, die im Internet über die eindeutigen IP-Nummern und Web-Adressen (URLs) gewonnen werden können, sollen im Freenet der Vergangenheit angehören. Im Unterschied zu den Domain-Namen des Internet erhält jede Freenet-Datei lediglich einen Schlüssel, der Informationen über den Inhalt einer Datei enthält, nicht aber seinen Absender identifizierbar macht.

Vor allem dieser Punkt macht Freenet in der öffentlichen Diskussion umstritten; die Freiheit könnte sich als zweischneidiges Schwert erweisen, befürchten die Kritiker. Denn niemand kann vorhersagen, wer sich zu welchem Zweck der Vorzüge der total anonymen Infrastruktur bedient, um seinen Angelegenheiten unerkannt nachzugehen. Das können Dissidenten sein, die Fakten über Menschenrechtsverstöße ihrer Staatsführung öffentlich machen wollen. Oder Kriminelle, die rassistische Propaganda verbreiten und terroristische Aktivitäten planen. Derjenige, auf dessen Rechner eine Freenet-Datei liegt, muss weder mit dem Urheber noch einem Nutzer identisch sein - und ist deshalb strafrechtlich nicht zu belangen.

Clarke entwickelte die technischen Grundlagen von Freenet während seines Studiums in Edinburgh, wo er einen Abschluss im Fach Künstliche Intelligenz und Computerwissenschaft machte. Auslöser des Projekts waren seinen Angaben zufolge Pläne der australischen Regierung, über Zensurmaßnahmen Einfluss auf das Internet zu nehmen. So versteht der gebürtige Ire sein Vorhaben als anarchistische Reaktion auf mögliche oder tatsächliche staatliche Eingriffe.

Clarkes Überlegungen zu Zensur, Demokratie und Meinungsfreiheit sind provokant und radikal. Da sie auch zentrale Bereiche des Urheberrechts berühren, dürften, falls Freenet Erfolg beschieden sein sollte, nicht nur Diktatoren schwere Zeiten bevorstehen. Auch Copyright-Inhabern hätten graue Haare zu gewärtigen. "Wenn die Sache funktioniert, werden die Leute in 20 bis 40 Jahren zurückblicken. Und die Vorstellung, dass man Informationen besitzen kann wie Gold oder Land, wird ihnen dann so erscheinen wie unserer heutiger Blick auf Hexenverbrennungen!" resümierte Clarke kürzlich gegenüber der "New York Times".

Informationelles Naturrecht

Clarkes Ansichten über den Sinn geistigen Eigentums sind durchaus umstritten aus offenkundigen Gründen: "Das Recht, eine Information zu besitzen, ist kein Naturrecht, sondern eine Idee der Regierung, um Kreativität zu fördern, indem den Kreativen ermöglicht wird, auch finanziell von ihrer Arbeit zu profitieren. Das ist eine respektable Absicht. Aber läuft das auch tatsächlich so? Schauen wir uns die Musik-Industrie an: Wer profitiert hauptsächlich vom Urheberrechts? Es sind jene, die Musik vertreiben - und nicht die Kreativen. Die Copyright-Gesetze haben versagt, weil sie die Kreativen in der Musikindustrie nicht ermutigen", räsoniert der Freent-Gründer. Solche Ansichten wurden auch in der Vergangenheit schon häufiger formuliert, haben aber mit der Realität wenig zu tun.

Vielleicht kommt das Clarke-Credo einem Londoner Straßenmusiker entgegen. Ansonsten sind die Verhältnisse in der Musikindustrie durchaus symbiotisch. Natürlich sind die Plattenfirmen auf die Kreativität ihrer Künstler angewiesen. Doch ist die Voraussetzung künstlerischen Erfolgs und die Durchsetzung neuer Trends - gerade im Pop-Reich Großbritannien - immer auch ein Resultat geballter Marketing-Anstrengungen. Folgte man Clarke, dann wäre England eine "Muzak"-Wüste, ein kulturelles Brachland voller Kaufhausmusik. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Recht hat Clarke, wenn er einfach die Veränderungen beschreibt, die sich im Auswertungsbereich durch das Internet ergeben. Wenig Trost spendet er dabei den Anstrengungen, die mit dem Mittel der Verschlüsselung digitaler Musik den illegalen Vertrieb über das Internet verhindern wollen: "Ich sage nur zwei Wörter zu solchen Unternehmungen: Gebt auf! Es gibt keine Möglichkeit, diese Technologien aufzuhalten."

Zu seiner technischen Entwicklung liefert Clarke eine Freenet-Philosophie mit, die das Projekt rechtfertigen will. Für Clarke sind der freie Zugang und die Verbreitung absolut jeder Information die Grundlage einer demokratischen Gesellschaft. Niemand habe das Recht, Einfluss auf die Meinungsbildung der Menschen und ihre Quellen zu nehmen. In der Konsequenz bedeuten Clarkes Überlegungen, dass es keinen Unterschied zwischen der Veröffentlichung einer oppositionellen Menschenrechtsgruppe und der Verbreitung kinderpornographischen Materials gibt. Denn der kriminelle Missbrauch der Informationsfreiheit sei ein Preis, den es sich zur Sicherung völliger Informationsfreiheit zu zahlen lohne. "Im 1. Weltkrieg marschierten Millionen junger Männer - oft noch von ihren Familien angespornt - in ihren Tod, weil sie keine Ahnung von der Realität des Krieges im neuen Jahrhundert hatten. Im Namen der nationalen Sicherheit hatte ihre Regierung Zensur angewandt und die Menschen unwissend gelassen." Und auch die Entwicklungen in Jugoslawien hält er für einen Beweis, dass nur freier Informationsfluss Handhabe gegen manipulierenden Staatsterrorismus biete.

Digitale Freiheitskämpfer

Seit März diesen Jahres ist eine erste Freenet-Version im Internet erhältlich (http://freenet.sourceforge.net). Und im Mai erklärte Clarke in einem Interview mit dem britischen TV-Sender "Channel 4" gab, dass mittlerweile 35 000 Freenet-Enthusiasten den digitalen Kampf aufgenommen hätten. Für Clarke ist es ein Kampf gegen die Zensur - doch wohin sich Freenet bei ausreichender Beteiligung entwickeln wird, ist offen. Zwar behauptet der geistige und technische Vater des Projekts nicht, dass Freenet in absehbarer Zeit das Internet komplett ersetzten wird. Doch er streicht bei jeder Gelegenheit ganz unbescheiden die Vorzüge seines Systems heraus.

Ausgangspunkt von Freenet waren technische Fragestellungen, die nach Clarkes Überzeugung jetzt ausreichend gelöst sind. Nun wird das Programm fortlaufend ergänzt und verbessert. Dass Clarke seiner technischen Entwicklung eine kleine, etwas holprige Philosophie überstülpt, erhöht zwar den Reiz der Auseinandersetzung, wirft aber eigentlich nur eine alte Frage auf: Ist, wer die Möglichkeiten des Feuers entdeckt, auch für die anschließenden Großbrände verantwortlich? Und sollte er darüber hinaus noch die Gebäude benennen, derer Abfackeln ihm geboten erscheint? Clarke, der bei einer Londoner E-Business-Company als Programmierer arbeitet, reagiert mittlerweile genervt, wenn Freenet in der Öffentlichkeit vor allem im Zusammenhang mit möglicher Verbreitung von Terrorismus und Kinderpornographie gesehen wird: "Terroristen verfügen längst über ihre geheimen Kommunikationswege. Und es ist es unwahrscheinlich ist, dass sie der Welt ihre Pläne mitteilen wollen. Ähnlich verhält es sich mit Leuten, die mit dem Vertrieb pornographischer Bilder ihr Geschäft machen. Sie wollen Gewinne erzielen. Und wenn sie heiße Tipps über ihre Kindesmissbrauchs-Aktivitäten verschicken wollen, wird es nur der Polizei ihre Arbeit erleichtern."

Anarchie oder Standardisierung

Die Zukunft von Freenet wird durch das Engagement der Mitstreiter entschieden werden. Noch ist unklar, wie viele Aktivisten es überhaupt braucht, um ein funktionierendes Netzwerk aufzubauen, das Informationen in attraktiver Zahl bereit hält. Umstritten ist, ob Freenet dabei wie eine perfekte Suchmaschine arbeitet und die Trefferzahl bisheriger Internet-Angebote übertrifft - oder ob gerade hier die Achillesferse des Systems liegt. Denn die Eingabe des Freenet-Schlüssels, also der Dateiinformationen, liegt in den Händen jedes einzelnen Nutzers. Und Anarchie und Standardisierung sind bislang nur selten gute Partner gewesen. So wird manch brisantes Geheimnis auch ein Geheimnis bleiben - weil niemand es im freien Netz findet. Eine weitere Hürde für Freenet dürfte in der Tatsache bestehen, dass die meisten Server nur zeitweise zur Verfügung stehen, denn private PCs sind bekanntlich nicht Tag und Nacht kontinuierlich online. Die zunehmende Pauschalabrechnung der Internet-Nutzung inklusive Telefongebühr durch "Flat-Rates" wird für das Freenet-Projekt mittelfristig nicht unwichtig sein. Aber nur wenn die Verteilung sämtlicher Freenet-Dateien weltweit im riesigen Ausmaß sichergestellt ist, wird auch fündig, wer zu nachtschlafender Zeit auf seinem Kontinent auf die Suche geht.

*Harald Schiller ist freier Journalist in Hamburg.