Die Spreu trennt sich vom Weizen

Frankfurts Neuer Markt ist im Abwärtstrend

21.05.1999
Von Andrea Goder* FRANKFURT/M. - Frankfurts Neuer Markt ist unter Druck geraten, Nach dem Höhenflug der vergangenen Monate befinden sich viele Kurse im Sturzflug - von Übersättigung ist die Rede. Vieles spricht zudem dafür, daß einige der Newcomer am Börsenparkett auch mit hausgemachten Problemen zu kämpfen haben.

Ist die Zockerpartie zu Ende? Diese Frage stellen sich immer mehr Beobachter angesichts der jüngsten Entwicklung an Frankfurts High-Tech-Börse. Bis vor kurzem noch lag die Erstnotiz der meisten Werte mindestens 50 Prozent über dem Emissionspreis - weitere Kursteigerungen in der Folge waren eine Selbstverständlichkeit. Doch für die Neulinge wird der Tag der Börseinführung am Neuen Markt immer mehr zur Zitterpartie.

Unangenehm erwischt hat es beispielsweise die Aktie der Infor Business Solutions AG, deren Ausgabepreis bei 31 Euro lag und die bereits am Ende des ersten Handelstages mit einem Minus (30 Euro) abschloß. An den folgenden Tagen gab der Kurs weiter nach. Ähnlich erging es der Notiz der Schmidt-Vogel-Consulting AG (SVC), die den Tag des ersten Listings ebenfalls unter dem Emissionspreis von 18 Euro abschloß. Selbst die Aktie des renommierten Softwarehauses IDS Scheer AG, die mit 12,50 Euro aus dem Bookbuilding hervorgegangen war, übersprang den Ausgabepreis nur knapp und rangiert auch jetzt, wenige Handelstage später, nur unwesentlich darüber.

Angesichts der Flut an Neuemissionen - mittlerweile sind mehr als 100 Unternehmen am Neuen Markt gelistet - läßt die Begeisterung der Anleger spürbar nach. Nun tritt ein, wovor Experten seit längerem gewarnt hatten: eine Übersättigung. Während momentan fast täglich ein Newcomer seine Premiere auf dem Frankfurter Börsenparkett feiert (mit Artnet. com, Suess Microtec und SHS gab es allein in der vergangenen Woche drei Going Publics) verliert der Index des Neuen Marktes kontinuierlich an Boden. Die "Unterstützungslinie" von 3200 Punkten sei gebrochen; eine neue "Auffanglinie" werde sich vermutlich bei 2800 Punkten bilden, heißt es in Börsenkreisen (siehe Abbildung).

Verkehrte Welt also - einerseits eine Rekordzahl bei den "Neuankömmlingen", andererseits zeigt das Kapital den vermeintlichen Wachstumswerten die kalte Schulter. Für Kenner der Szene kommt dies jedoch nicht überraschend. Noch profitiere man davon, daß die Börsenpläne vieler Unternehmen "meist schneller reiften als Tomaten unter intensivster Treibhausbestrahlung", kommentierte unlängst das "Handelsblatt". Andererseits spürt man aber die zunehmende Konkurrenz anderer etablierter Börsen. Jedenfalls gab es zuletzt auch anderswo interessante Anlagemöglichkeiten, etwa die im amtlichen Frankfurter Handel notierte Aktie der Software AG. Und mit Agfa und Stinnes stehen demnächst zwei weitere publicityträchtige Großemissionen außerhalb des Neuen Marktes an. Zu allem Überfluß droht quasi als Damoklesschwert im Hintergrund der für Juni angekündigte zweite Börsengang der Telekom.

Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß der Neue Markt seit seinem Start im März 1997 kleinen und mittelständischen Technologiefirmen neue Wachstumsperspektiven eröffnet und an deren Erfolgsstory zum Teil kräftig mitgeschrieben hat. Jetzt aber, so scheint es, wird so manches Kapitel kritisch hinterfragt, nicht jede Wachstumsprognose gleich für bare Münze genommen. Der eingangs beschriebene, wenig verheißungsvolle Start von Infor und SVC dürfte jedenfalls auch damit zu tun haben, daß beide Companies im momentan schwierigen ERP-Markt tätig sind.

Doch es sind nicht nur die allgemeinen Marktbedingungen, die sich gewandelt und für eine Abkühlung der Euphorie gesorgt haben. Nicht selten holen sich Unternehmen, worüber momentan noch wenig geredet wird, mit ihrem Going Public erst die Probleme ins Haus. Vor allem dann, wenn sich der Neuling auf dem Börsenparkett nicht als lupenreiner Wachstumswert herausstellt oder unvorhergesehene Einflüsse die Kursentwicklung trüben. Die Schwierigkeiten, die dann auftreten, sind wiederum in vielen Fällen hausgemacht. "Viele Firmen arbeiten wie verrückt auf den Börsengang hin, vernachlässigen dann aber die Kommunikation nach außen", beobachtet Sven Oleownik, Consultant bei der Münchner Unternehmensberatung Dr. Wieselhuber & Partner.

Andere preschen mit vollmundigen Prognosen nach vorne. Doch die Quittung kommt oft schon nach wenigen Monaten, wenn es heißt, erste Quartalsberichte vorzulegen. Going Public wird für viele Unternehmen dann zum gefürchteten "Going Transparent". Hinzu kommt: Neue-Markt-Firmen unterliegen strengeren Kriterien als Werte im amtlichen Handel oder im geregelten Markt. "Die Notwendigkeit, Punktlandungen beim Ergebnis zu machen, ist groß", warnt Oleownik. Wer hinter den Planungszielen beziehungsweise den Erwartungen der Analysten zurückbleibt, wird hart bestraft.

Die Aachener Elsa AG kann davon ein Lied singen. Kaum an der Börse notiert, mußte der Grafikkarten- und Datenkommunikations-Spezialist bereits im ersten Berichtsquartal mit roten Zahlen vor die Finanzöffentlichkeit treten. Die Pannenserie der Aachener setzte sich fort mit der gescheiterten Übernahme des US-Wettbewerbers Hercules und einer insgesamt enttäuschenden 1998er-Bilanz.

Mit einem Umsatzplus von lediglich 4,5 Prozent auf knapp 300 Millionen Mark (ursprünglich waren 430 Millionen Mark geplant) und 17 Millionen Mark Verlust ist Elsa derzeit nicht unbedingt ein Wachstumswert. Die Entwicklung des Unternehmens spiegelt sich auch im Kursverlauf wider. Nach Bekanntgabe der jüngsten Geschäftszahlen rutschte die Aktie erneut unter den Emissionspreis von 63 Euro.

Den "Charme der Öffentlichkeit", wie Unternehmensberater Oleownik es nennt, hat in den letzten Wochen auch die Münchner Data Design AG zu spüren bekommen. Das auf Electronic-Banking-Software spezialisierte Unternehmen meldete für das erste Quartal dieses Jahres lediglich ein geringfügiges Umsatzplus auf 2,8 Millionen Mark. Vorstandschef Stefan Pfender hatte nach der Übernahme der Software 4 You GmbH allerdings Einnahmen von 4,5 Millionen Mark in Aussicht gestellt. Nach roten Zahlen im ersten Quartal korrigierte der Unternehmenschef auch gleich den Umsatz für 1999 auf 18 Millionen Mark nach unten (24 Millionen Mark waren anvisiert). Was die Anleger von diesen Ankündigungen hielten, ließ sich in der Folge am Kurs ablesen, der von 120 auf unter 70 Euro absackte.

Andere Unternehmen wiederum nutzten die Gunst der Stunde am Neuen Markt und ließen sich vom Internet-Boom mittreiben. So wurde mit der Endemann Internet AG vor kurzem eine weitere vermeintliche "Kursrakete" gezündet, die am ersten Handelstag von 23 auf 106 Euro hochschoß. Der Härtetest steht dem Neusser Suchmaschinenbetreiber allerdings erst bevor. 1998 kamen die Newcomer auf lediglich 1,3 Millionen Mark Umsatz bei kaum nennenswerten Gewinnen. Doch mit diesem "Profil" befindet sich das Unternehmen am Neuen Markt bekanntlich in bester Gesellschaft.

Die bis dato noch ungebrochene Internet-Euphorie der Anleger machte sich zunächst auch die Infomatec AG in Augsburg zunutze. Der einstige Highflyer peitschte mit insgesamt acht Akquisitionen den Kurs bis Ende Februar dieses Jahres auf 315 Euro hoch. Doch nach einer im selben Monat vollzogenen Kapitalerhöhung kennt die Aktie nur eine Richtung: abwärts.

Schwächen von Infomatec schon länger bekannt

Der Negativtrend der Ausgburger hält bis heute an. Allein in den ersten Mai-Wochen verlor das Papier weitere 30 Prozent und notiert aktuell bei weniger als 150 Euro. Über die Gründe läßt sich philosophieren. Fest steht: Die unkoordinierte Akquisitionspolitik des Unternehmens, sein Engagement in zu vielen Märkten (von E-Commerce-Software über Programmiersprachen bis hin zum digitalen Fernsehen) war vielen Experten schon vor dem Going Public ein Dorn im Auge. Aktuell dürfte der für 1998 ausgewiesene Verlust in Höhe von 4,5 Millionen Mark sowie die Ankündigung weiterer roter Zahlen zur schlechten Kursperformance beigetragen haben.

Börsenkapitalisierungen in Höhe von mehreren Milliarden Mark stehen jedoch nicht nur bei Internet-Firmen, die wie Infomatec noch Verluste schreiben, in krassem Mißverhältnis zu den bisherigen Geschäftszahlen. "Solche Bewertungen sind hanebüchen und fundamental nicht nachvollziehbar", meint der IPO-Leiter einer Frankfurter Emissionsbank. Diese Kritik zielt natürlich auf die weltweite "Internet-Mania", vor allem aber auf die Zulassungskommission am Neuen Markt ab. Börsenkandidaten müssen vor dem zuständigen Ausschuß in erster Linie ihr Innovationspotential und ihre Wachstumsstory verkaufen können. Ob ein Unternehmen auf eine Firmenhistorie zurückblicken kann oder in der Vergangenheit nur rote Zahlen geschrieben wurden, interessiert hingegen kaum. Doch damit steigt auch die Crash-Gefahr.

Amerikanische Verhältnisse also - aber genau die wollten die Verfechter der Frankfurter High-Tech-Börse ja. Wie tief dennoch den Anlegern die Angst im Nacken sitzt, zeigte der jüngste Kurssturz an der US-Computerbörse Nasdaq Mitte April. Allein die Warnung mehrerer Analysten vor einer Überbewertung beziehungsweise Korrektur bei den wichtigsten Internet-Werten reichte aus, den Nasdaq-Index um 5,6 Prozent einbrechen zu lassen. Im Sog der Wallstreet fiel tags darauf auch der Neue-Markt-Index um fast vier Prozent. Mit anderen Worten: Die "Geldmaschine" Neuer Markt ist zum Teil auch von der anhaltenden "Internet-Phantasie" in den USA abhängig.

*Andrea Goder ist freie Journalistin in München.