Mehr Kontakte, mehr Berufschancen

Fragwürdige Karriere-Experimente bei LinkedIn

26.09.2022
Von 


Manfred Bremmer beschäftigt sich mit (fast) allem, was in die Bereiche Mobile Computing und Communications hineinfällt. Bevorzugt nimmt er dabei mobile Lösungen, Betriebssysteme, Apps und Endgeräte unter die Lupe und überprüft sie auf ihre Business-Tauglichkeit. Bremmer interessiert sich für Gadgets aller Art und testet diese auch.
LinkedIn führte über fünf Jahre hinweg heimlich Experimente mit über 20 Millionen Nutzern durch – mit Konsequenzen für die Karriereentwicklung.
Viele Kontakte - viel Erfolg. Allerdings variierte LinkedIn bei seinem Experiment die Chancen für Nutzer, neue Kontakte zu bekommen.
Viele Kontakte - viel Erfolg. Allerdings variierte LinkedIn bei seinem Experiment die Chancen für Nutzer, neue Kontakte zu bekommen.
Foto: metamorworks - shutterstock.com

Wie die New York Times berichtet, führte LinkedIn zwischen 2015 und 2019 auf der ganzen Welt Experimente durch, um den Algorithmus für seine Vorschlagsfunktion "Personen, die Sie vielleicht kennen" zu optimieren.

Der Algorithmus analysiert Daten wie die Beschäftigungsgeschichte der Mitglieder, Jobtitel und Verbindungen zu anderen Nutzern. Dann versucht er, die Wahrscheinlichkeit abzuschätzen, mit der ein LinkedIn-Mitglied eine Freundschaftseinladung an eine vorgeschlagene neue Verbindung sendet, sowie die Wahrscheinlichkeit, dass diese neue Verbindung die Einladung annimmt.

Während der Tests wurden Personen, die auf das Tool "Personen, die Sie kennen könnten" klickten und sich die Empfehlungen ansahen, verschiedenen algorithmischen Pfaden zugewiesen. Einige dieser "Behandlungsvarianten", wie sie in der Studie genannt wurden, führten dazu, dass LinkedIn-Nutzer mehr Verbindungen zu Personen eingingen, zu denen sie nur schwache soziale Bindungen hatten. Andere Änderungen führten dazu, dass die Nutzer weniger Verbindungen mit schwachen Verbindungen eingingen.

Die erste Testwelle, die 2015 durchgeführt wurde, hatte über vier Millionen Versuchspersonen. Die zweite Testwelle, die 2019 durchgeführt wurde, umfasste mehr als 16 Millionen Personen. LinkedIn informierte die Nutzer nicht darüber, dass sie Gegenstand von sozialen Experimenten waren, bevor sie durchgeführt wurden.

Später analysierten Forscher von LinkedIn, M.I.T., Stanford und der Harvard Business School dann die über den gesamten Zeitraum aggregierten Daten der Tests in einer Studie, die diesen Monat in der Zeitschrift Science veröffentlicht wurde. Konkret untersuchten sie dabei , wie sich die algorithmischen Änderungen von LinkedIn auf die berufliche Mobilität der Nutzer ausgewirkt haben.

Auf diese Weise wollten sie die Validität einer einflussreichen Theorie in der Soziologie, die so genannte "Stärke der schwachen Bindungen", überprüfen. Diese besagt, dass die Wahrscheinlichkeit, eine Anstellung zu finden oder andere Chancen zu nutzen, größer ist, wenn man mit Bekannten zusammenarbeitet, als wenn man enge Freunde hat.

Tatsächlich bestätigten die von LinkedIn gesammelten Ergebnisse die bereits 1973 aufgestellte Theorie. So fanden die Forscher heraus, dass sich relativ lockere, soziale Bindungen auf LinkedIn als doppelt so effektiv bei der Jobsuche erwiesen wie stärkere soziale Bindungen. Nutzer, die mehr Empfehlungen für mäßig schwache Kontakte erhielten, bewarben sich im Allgemeinen auf mehr Stellen und nahmen diese auch an.

Ein Jahr nach der Kontaktaufnahme auf LinkedIn hatten Personen, die mehr Empfehlungen für mäßig schwache Kontakte erhalten hatten, eine doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit, einen Job in den Unternehmen zu bekommen, in denen diese Bekannten arbeiteten, verglichen mit anderen Nutzern, die mehr Empfehlungen für starke Verbindungen erhalten hatten. Schwache Verbindungen erwiesen sich dabei laut Studie als am nützlichsten für Arbeitssuchende in digitalen Bereichen wie Künstliche Intelligenz, während starke Verbindungen sich als nützlicher für eine Beschäftigung in Branchen erwiesen, die weniger auf Software angewiesen sind.

Nicht ohne Konsequenzen für die Nutzer

Es ist gängige Praxis, dass Betreiber großer Websites und Netzwerke mithilfe von A/B-Tests verschiedene Versionen von App-Funktionen, Webdesigns und Algorithmen an verschiedenen Personen ausprobieren. Ziel ist es, die Nutzererfahrungen zu verbessern und das Engagement der Nutzer aufrechterhalten, was den Unternehmen hilft, Geld durch Premium-Mitgliedsgebühren oder Werbung zu verdienen.

Aus Sicht einiger Experten ist LinkedIn jedoch mit dem vorgenommenen Änderungen deutlich zu weit gegangen. "Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass einige Nutzer einen besseren Zugang zu Arbeitsmöglichkeiten oder einen bedeutenden Unterschied beim Zugang zu Arbeitsmöglichkeiten hatten", zitiert die NYT Michael Zimmer, außerordentlicher Professor für Informatik und Direktor des Zentrums für Daten, Ethik und Gesellschaft an der Marquette University. "Dies sind die Art von langfristigen Folgen, die wir in Betracht ziehen müssen, wenn wir über die ethischen Aspekte dieser Art von Big-Data-Forschung nachdenken."

LinkedIn wiederum erklärte gegenüber der Zeitung, dass es sich während der Studie "konsequent" an die Nutzungsvereinbarung des Unternehmens, die Datenschutzrichtlinien und die Mitgliedereinstellungen gehalten habe. So werde in den Datenschutzrichtlinien darauf hingewiesen, dass LinkedIn die persönlichen Daten seiner Mitglieder für Forschungszwecke verwendet. Außerdem habe das Unternehmen die neuesten, "nicht-invasiven" sozialwissenschaftlichen Techniken verwendet, um wichtige Forschungsfragen "ohne Experimente an Mitgliedern" zu beantworten.

Das Ziel der Forschung war es, "Menschen in großem Umfang zu helfen", sagte Karthik Rajkumar, ein Wissenschaftler für angewandte Forschung bei LinkedIn, der zu den Mitautoren der Studie gehörte. "Niemand wurde bei der Jobsuche benachteiligt."