Bundesbeauftragter für Datenschutz

Fortschritt oder Verzicht

22.09.1978

Wir neigen dazu, in Alternativen zu denken und zu reden. Wir übertragen Zeit- und Raumvorstellungen auf soziale Entwicklungen und sprechen davon, daß dieser und jener Trend "vorwärts" oder "in die Zukunft" führe, während ein anderer "konservativ" oder gar "rückschrittlich" sei. Diese Redeweise kann nützlich sein, um Positionen und Absichten zu verdeutlichen oder zumindest Relationen zwischen verschiedenen Ansichten zu bezeichnen. Sehr häufig aber bleibt sie formal-inhaltslos und wirkt - den Redenden bewußt oder auch unbewußt - nur als emotionale Anregung zur Abgrenzung von der Gegenmeinung, so daß Polemik statt Sachdiskussion stattfindet. Begriffe wie "Fortschritt", "Reform" "Verbesserung" sind, für sich genommen, nicht aussagekräftig genug; man muß weiter fragen, was damit inhaltlich gemeint ist, welche Qualität des Fortschritts angestrebt wird.

Dies gilt für den sozialen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Fortschritt, aber auch für den "bloß" technischen Fortschritt.

Man kann zwar sagen, es stelle einen Fortschritt dar, wenn eine Maschine dieselben Prozesse, die von einer anderen Maschine in einer bestimmten Zeit geleistet werden, in einer kürzeren Zeit erledige oder wenn sie in derselben Zeiteinheit mehr Arbeit in derselben Qualität schaffe. Sowie aber das neue Gerät zusätzliche Folgen verursacht, müssen diese in die "Fortschrittsrechnung" einbezogen werden, und das kann den Saldo verschlechtern.

Ein Beispiel für nachteilige Nebenfolgen der ADV: Die Schematisierung, die bei Übernahme bisher manuell erledigter Arbeiten durch Maschinen eintritt, der Verlust des Spielraums für individuelle Entscheidungen.

Selbstverständlich kann die Menschheit und kann ein einzelnes Volk nicht auf jede Art oder auch nur wesentliche Elemente von "Fortschritt" verzichten, weder pauschal noch in bezug auf einzelne Neuerungen. Aber ebenso selbstverständlich ist der "schlechte Fortschritt" abzulehnen, also jene Art von Produkten des menschlichen Erfindungsgeistes, die bei umfassender Bewertung in Wahrheit keinen Nutzen bringen.

Die Frage aber, welche Art von Fortschritt wir anstreben sollten, stellt sich auch und gerade mit Bezug auf die ADV.

Die wahrscheinlichen Folgen weiterer Automation der Informationsverarbeitung sind bekannt: "Freisetzung" zahlloser Arbeitskräfte, für einen großen Teil der Beschäftigten Arbeitslosigkeit, erhebliche Veränderungen der Arbeitsbedingungen, Veränderungen der Beziehung zur Umwelt (Kunden, Bürger), ja unter Umständen eine veränderte Qualität der Information selbst.

Zu beachten ist insbesondere, daß die Art und Weise der Informationsverarbeitung Rückwirkungen auf die Verwaltungspraxis haben kann, die - mehr oder weniger unbemerkt - normative Prinzipien leerlaufen lassen oder zumindest zu ihrer Vernachlässigung führen kann. Schon die Verwendung von Formularen kann zu Vereinfachungen zwingen, die bis dahin für unangebracht gehalten wurden. Technische Vereinfachungen weiterer Art, die unter zu engen Rahmenbedingungen durchgeführt werden, schränken die zu verarbeitenden Informationsmengen und -arten ein und kanalisieren möglicherweise die Verarbeitung selbst in unzulässiger Weise. Infolgedessen kann es zu Verstößen gegen den Gleichheitssatz kommen; Beispiele aus der Vergangenheit sind verfügbar.

Andererseits besteht auf vielen Gebieten noch großer Bedarf an "besserer" Informationsverarbeitung, insbesondere an der Berücksichtigung von mehr Information bei Entscheidungen und an schnellerer Verfügbarkeit der Informationen. Das "Datenverkehrsrecht" eines demokratischen und sozialen Rechtsstaates kann schon aus diesem Grunde, daß Daten für eine Vielzahl von Verwaltungsleistungen und -entscheidungen benötigt werden, nicht als beschränkendes Regelwerk auf eine vorher gegebene und sich weiter entwickelnde Datenverarbeitungspraxis aufgesetzt werden, sondern muß "positiv" entwickelt werden, aufbauend auf den zur Erfüllung der verschiedenen Aufgaben erforderlichen (!) Datenerhebungen, -speicherungen und -übermittlungen, so daß das Für und Wider sogleich von Anfang an miteinander konfrontiert wird, daß die divergierenden Interessen frühzeitig aufeinander bezogen und in einen Abwägungsprozeß eingebracht werden. Der Gedanke des Datenschutzes muß also schon im Planungsstadium der Datenverarbeitungsanlagen mitgedacht werden. (Es wäre ein Mißverständnis des dem Datenschutz zugrunde liegenden Prinzips, wenn nunmehr bei allen Planungen der Datenschutz nur rein formal abgesichert würde, indem man eine möglichst genau formulierte und viele Formen der Datenverarbeitung abdeckende gesetzliche Ermächtigung schüfe, ohne materiell etwas zu ändern.)

Die Abwägung der Vor- und Nachteile eines Datenverarbeitungsprojekts kann zu dem Ergebnis führen, daß die Gefahren für wesentliche Rechtsgüter überwiegen. In diesem Fall sind die in Aussicht genommenen Anwender zumindest politisch, häufig aber auch rechtlich verpflichtet, die Anwendung abzulehnen. Wird dies nach gründlicher Prüfung in einem frühen Stadium erklärt, so haben die wirtschaftlich an der Entwicklung Interessierten immerhin die Chance, Alternativen anzubieten.

Für den Bereich der ADV sind heute zumindest Grenzpfeiler erkennbar: Ein umfassendes Informationssystem über alle Bürger eines Staates widerspräche verfassungsrechtlichen Grundnormen (Gebot der Achtung der Menschenwürde, der freien Entfaltung der Persönlichkeit, Rechtsstaatsprinzip); die Rechtsprechung hat bereits vielfach deutlich gemacht, daß die Anfertigung von Persönlichkeitsprofilen und die Anlegung von Dossiers, wenn überhaupt, dann nur unter ganz engen Voraussetzungen zulässig ist.

Bei der Entwicklung technischer Neuerungen müssen früher und umfassender als bisher soziale, kulturelle und (nicht zu eng ansetzende) ökonomische Überlegungen angestellt werden. Nicht nur die in Betracht kommenden Verwendungszwecke, sondern auch die wahrscheinlichen Folgen der Anwendung neuer Technologien auf das Verhältnis von Menschen zu einander müssen bedacht werden. Eine in der Demokratie notwendig und erfolgversprechende Methode diese Abwägung zu einem akzeptablen Ergebnis zu bringen, besteht in verstärkter Beteiligung der Betroffenen. Für solche Beteiligungsprozesse bestehen bereits vielfache, auch institutionelle Ansätze; auf manchen Gebieten bedarf es zusätzlicher Initiativen (Bürgerbeteiligung an der Verwaltung). Für die staatliche Förderungspolitik darf das Ziel, die nationale Wirtschaft zu unterstützen, keinen Vorrang haben. Andererseits müssen auch ausländische Unternehmen, die auf dem Staatsgebiet aktiv sind, die von den verantwortlichen Verfassungsorganen gesetzten Ziele und Rahmenbedingungen ihrer Wirtschaftstätigkeit beachten.

*Als Referat auf dem lKD in Berlin gehalten.