Forschungsfreiheit setzt Anwendungsfreiheit voraus

20.01.1989

Professor Dr. Ulrich Beck Lehrstuhl für Soziologie Universität Bamberg

Es gab einmal eine Zeit, da konnte die Industrie Projekte starten, ohne sich Kontrollen und Absprachen zu unterwerfen. Dann kam die Periode des staatlich organisierten Wirtschaftens, in der dies nur in Absprachen auf der Grundlage von Gesetzen, Verordnungen möglich war. Heute reicht auch dieses nicht mehr hin. Derartige Absprachen können gefunden und versiegelt sein, aber das Betriebs- und Konzernmanagement sieht sich weiterhin Konflikten, Widerständen, öffentlichen Anprangerungen und Verdächtigungen ausgesetzt, die unvorhersehbar und unkalkulierbar in alle Details, die bisher im Monopol von Technik und Management verschlossen waren, hineinregieren - von der Abfallbeseitigung über die Fertigungsverfahren bis zu den demokratiegefährdenden Folgen der Informationstechnologien.

Dies ist nicht, wie die Verteidiger der alten Ordnung sich wechselseitig Trost spenden, Produkt reißerischer Hysterie in den Massenmedien, "langhaariger" Arbeitslosigkeit und irrationaler Technikfeindlichkeit. Es ist erstens vielmehr Ausdruck erstens weiterentwickelter Demokratie, deren gewachsenes Bürgerbewußtsein sich nicht mehr konfliktfrei von Entscheidungen ausschließen läßt, die die Lebensbedingungen spürbarer und weitreichender verändern als die Entscheidungen, auf die parlamentarische Einflußnahmen möglich sind. Es ist zweitens Ausdruck der erst langsam dämmernden Einsicht, daß die Folgen und Gefahren moderner Großtechnologie mit der bisher geltenden Rationalität des Risikokalküls brechen; sowie drittens der Tatsache, daß die Großtechnologien längst die experimentelle Logik auf den Kopf gestellt und die Gesellschaft zum Labor gemacht haben.

Der Industrialismus ist ein Abenteuer, eine Normalitätsrevolution, die als Schattenseite der Produktivitätsmaximierung fortlaufend unkalkulierbare Folgen und Schädigungen produziert. Diese werden in einem Frühstadium den Individuen angelastet. Erst mit dem Risikokalkül, in dem von den besonderen Umständen abgesehen wird und Unfälle nach Eintrittswahrscheinlichkeiten berechnet werden, wird die Ebene der gesellschaftlichen Definition von Folgen erschlossen, die auch ihrer Erzeugung entspricht. Die epochale Leistung des Risiko- und Versicherungsgedankens liegt demgegenüber in einer doppelten Vergesellschaftung von Verantwortung und Gefahr.

Die Bedrohung wird nach den Maßstäben der "Wahrscheinlichkeitsvernunft" ihrer individuellen Leidensgeschichte entkleidet und die Frage der Folgenkompensation von Fragen des individuellen Versagens abgelöst und einem allgemeinen Ausgleichssystem unterworfen. Solange kein offen schuldhaftes oder grob fahrlässiges Verhalten vorliegt, lösen - im Prinzip - allein die Folgen die Folgenkompensation aus. Die Vorteile dieser sozialen Erfindung liegen darüber hinaus - offensichtlich in der stochastisch-statistischen Berechenbarkeit des Unberechenbaren (mit Hilfe etwa von Unfallstatistiken), der Abstraktheit und Generalisierbarkeit von Lösungsformeln sowie dem allgemeinen ökonomischen Ausgleich, der auf dem Tauschprinzip "Zerstörung gegen Geld" beruht. Auf diese Weise wird die Zurechenbarkeit des Unzurechenbaren, die Kalkulation des Unkalkulierbaren ermöglicht und gegenwärtige Sicherheit angesichts einer offenen, unsicheren Zukunft erzeugt.

Die Folgen und Gefahren moderner Großtechnologien - das bleibt bislang fast unbeachtet - haben nun aber genau diese Grundlagen ihrer "rationalen Kalkulation" außer Kraft gesetzt. Dies gilt zunächst offensichtlich für die extremen atomaren und chemischen Gefahren. Handelt es sich doch hier um globale, oft irreparable Schädigungen, die selbst noch ungeborenes Leben mit einschließen: Der Gedanke der geldlichen Kompensation versagt. Zweitens ist die vorsorgende Nachsorge für den schlimmsten denkbaren Unfall im Fall von Vernichtungsgefahren ausgeschlossen: Die Sicherheitsidee der antizipatorischen Folgenkontrolle versagt. Drittens verliert der "Unfall" sine raum-zeitliche Begrenzung und damit seinen Sinn; er wird zu einem Ereignis mit Anfang ohne Ende: Das aber heißt, Normalitätsstandards, Meß- und Kalkulationsgrundlagen für Gefahren werden aufgehoben, Unvergleichliches wird verglichen, Kalkulation schlägt in Verschleierung um.

Auch bei Gen- und Informationstechnologien sind diese Haftungs-, Zurechnungs- und Kompensationsfragen weitgehend ungeklärt. Insbesondere trifft aber auch auf sie zu, daß sie die Bedingungen der guten, alten Forschungslogik umgestülpt haben. Nicht mehr die Folge erst Labor, dann Anwendung gilt, sondern Überprüfen kommt nach der Umsetzung, Herstellen vor Forschung. Retortenbabies müssen erzeugt, gentechnische Kunstwesen ausgesetzt, Reaktoren gebaut, Informationssysteme implementiert werden, damit ihre Eigenschaften und Folgen, ihre Funktionstüchtigkeit und Sicherheit studiert werden können. Der Ausweg, im Labor Teilsysteme zu testen, verstärkt die Kontingenz ihres Zusammenwirkens und erzeugt damit Fehlerquellen, die ihrerseits nicht experimentell kontrolliert werden können. Anders gesagt: Es müssen die Fragen nach der Funktionstüchtigkeit und Sicherheit großtechnischer Systeme positiv beantwortet werden, um sie aufwerfen zu können.

Dieser Zirkel untergräbt den Rationalitätsanspruch der modernen Technikwissenschaften. Durch das Wegrechnen und -vergleichen von Gefahren und Folgen täuschen diese sich noch immer darüber hinweg, daß sie keine experimentelle Erfahrungswissenschaft im Sinne ihrer Gründungsväter mehr sind.

Die Konsequenzen im Innern und nach außen sind weitreichend: Forschungsfreiheit setzt Anwendungsfreiheit voraus. Anders gesagt: Wer heute nur Forschungsfreiheit fordert oder gewährt, hebt die Forschung auf.

Geforscht wird im Bereich gesellschaftsexperimenteller Großtechniken aber unter dem Damoklesschwert horrender Investitionen. Wo Umsetzung vor Forschung kommt, blüht das technologische Dogma: Fehler, in denen Milliarden stecken, können nicht mehr eingestanden werden. Die Menschheitsexperimente, die veranstaltet werden, sind (ähnlich dem Unfall) unabschließbar geworden - räumlich und zeitlich ebenso wie international und interdisziplinär offen, nicht zurechenbar in Folgen und Fehlern.

Damit haben die Technikwissenschaften ihre exklusive Beurteilung dessen, was ein Experiment besagte aufgegeben. Die Forschung wurde sozusagen implizit vergesellschaftet. Die Öffentlichkeit, die Politik, die Wirtschaft, die Bestandteil des Experimentes sind, nehmen interne Mitsprachen in Anspruch.

Am einschneidendsten aber sind wohl die gesamtgesellschaftlichen Folgen. In Fortschrittskonflikten werden die Ziele der gesellschaftlichen Entwicklung von der obersten bis zur untersten Etage gegensätzlich ausbuchstabiert. Dies ist gewiß nicht der erste Konflikt, den moderne Gesellschaften zu bewältigen haben. Aber einer der grundsätzlichsten. Klassenkonflikte, Revolutionen verändern die Machtverhältnisse, tauschen die Eliten aus. Halten aber an den Zielen des technischökonomischen Fortschritts fest, stehen im Streit gemeinsam unterstellter Menschen und Bürgerrechte. Fortschrittskonflikte zielen dagegen auf die Grundlagen ihres Ausgleichs: Auf die Basis der Wissenschaft, des Rechts, die immanente Widersprüchlichkeit des demokratischen Spielregelsystems. Damit können aber alle Entscheidungen urplötzlich in den Sog politischer Grundsatzkonflikte geraten.

(Siehe dazu: Ulrich Beck, Gegengifte - Die organisierte Unverantwortlichkeit, Frankfurt/Suhrkamp 1988 sowie ders., Risikogesellschaft - Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/Suhrkamp 1986)