IT-Forschung/Beispiel TU Chemnitz

Forschung an deutschen Unis

12.11.1998
Von Stephan Eder* So schnell kann es gehen: An der Fakultät für Elektrotechnik und Informationstechnik der TU Chemnitz sprießen neue Ideen für die High-Tech-Forschung.

Stolz ist man, bei aller Bescheidenheit, an der Technischen Universität Chemnitz: auf die Silizium-Mikrospiegel für das Laserfernsehen, auf Absolventen, die gefragt sind, auf die Zusammenarbeit mit Weltfirmen, die millionenteures Equipment zur Verfügung stellen und darauf, "daß wir eine Campus-Universität sind".

Professor Dietmar Müller vertritt den Dekan der Fakultät für Elektrotechnik und Informationstechnik und will dem Besucher verdeutlichen, was die TU Chemnitz ausmacht.

Eine Campus-Universität hat ihre Vorteile, kurze Wege zum Beispiel, auch organisatorisch, direkt vom Studenten zum Professor. Die Studienzeiten sind kurz, und die Lehrenden leben nicht in Elfenbeintürmen sondern im Hier und Jetzt. Nur 5200 Studis teilen sich 165 Professoren.

Bei einem Uni-Ranking von "Focus" landeten 1997 aus Sicht der Studierenden vier ostdeutsche Unis auf den ersten sechs Plätzen. Neben Chemnitz auf Platz eins noch Freiberg, Greifswald und Leipzig. In der Regel schneiden die Ost-Lehrstühle in puncto Lehrinhalte, Computerausstattung und Betreuung besser ab als die westliche Konkurrenz. Schon zu DDR-Zeiten wurde auf eine grundsolide, anwendungsbezogene Ausbildung Wert gelegt; die technische Ausstattung ist vielerorts auf dem neuesten Stand. Ein entscheidender Vorteil für die Absolventen, denn die Wirtschaft sucht junge Leute mit einem kurzen Studium unter modernen Bedingungen, mit Praktika in der Industrie und angewandter Ausrichtung.

Der Raum Chemnitz-Zwickau-Dresden war in der DDR eine Region, um dem Westen in Sachen Informatik und Computer Konkurrenz zu machen. Sie verfügt dadurch über bedeutende und wichtige Wissens- und Personalressourcen. Die sind heute goldene Bits und Bytes wert. "Als recht kleine Fakultät konnten wir 1996 ein gutes Viertel der 36 Millionen Mark an Drittmitteln vorweisen", so Dietmar Müller über die Fakultät Elektrotechnik und Informa- tionstechnik.

Für 1997 und 1998 steigen die Zahlen weiter. Er selbst finanziert an seinem Lehrstuhl für Schaltungs- und Systementwurf nur zwei Stellen über das Land Sachsen. Für zwölf weitere mußte Müller Drittmittel organisieren. Im Weinholdbau der Fakultät, einem grauen Klotz im Stil der siebziger Jahre, arbeiten Müllers Mitarbeiter an modernsten RISC-Workstations und Pentium-Maschinen.

An Selbstbewußtsein mangelt es hier nicht. "Wir applizieren ASICs. Wir können eigentlich alles: Wir können beliebig schnell sein, wir können relativ klein sein. Und wir können in der Fakultät von A bis Z alles selbst herstellen."

So entwickelten Müllers Leute zusammen mit dem Heinrich-Hertz-Institut für Nachrichtentechnik aus Berlin für Fujitsu mit HiPEG (High-Definition-PEG) einen MPEG-2-Video-Decoder, ein Schlüsselelement für HDTV, das hochauflösende Fernsehen der Zukunft. Sie brachten den gesamten Decoder in einem Chip von der Größe eines Pfennigs unter. Die Konkurrenz benötigt (noch) sieben Chips.

Eines der Vorzeigeobjekte der TU Chemnitz ist das Zentrum für Mikrotechnologien (ZfM) der Fakultät. Die sächsische High-Tech-Schmiede arbeitet unter anderem im Rahmen des Forschungsprojekts Damascene (Damascene Architecture for Multilevel Interconnections) mit sieben europäischen Partnern an der Erhöhung der Zuverlässigkeit von Leiterbahnen und dem Einsatz von Kupfer als Leiterbahnmaterial. Auf rund 1000 Quadratmeter Reinraumfläche können die über 50 Mitarbeiter unter Leitung von Professor Thomas Geßner Strukturbreiten im Bereich von 200 Nanometern realisieren. "Weltweit sind dazu nur wenige Forschungseinrichtungen in der Lage", erklärt Geßner.

Das ZfM ist auch zentraler Bestandteil des Sonderforschungsbereichs Mikromechanische Sensor- und Aktor-Arrays. Bekanntestes Beispiel: Der Silizium-Mikrospiegel für das preisgekrönte Laserfernsehen des Erfinders Christhard Deter, Chef der Geraer Firma Laser-Display-Technologie (LDT). So etwas funktioniere nur, wenn alle an einem Strang ziehen, betont Professor Müller und preist die Kollegialität im Hause. "Wir machen oben einen Systementwurf, dann reichen wir die Idee durch bis zum Silizium." Man verstehe sich fast blind: "Das ist ein Blinzeln mit den Augen - das Gebären und das Realisieren von Ideen."

Doch die Technik allein genügt nicht. Erfahrung ist nötig, und die kann das ZfM aufweisen. Bernd Löbner, Abteilungsleiter Silizium-technologie im ZfM, kennt die Anlage noch aus den Anfängen: "Diese über Jahre gesammelte Erfahrung können wir an unsere Studenten weitergeben. Deswegen sind die so gefragt." Vom Entwurf bis zur Testung steht im ZfM ein geschlossener Siliziumzyklus zur Verfügung. "Das macht uns interessant als Dienstleister", so der promovierte Physiker. Das ZfM erhält nicht nur aus der Uni Aufträge, sondern genauso aus der mittelständischen Industrie der Region und von deutschen sowie internationalen Großunternehmen. Mit fünf US-Firmen, so Löbner, habe das ZfM mittlerweile Kooperationsverträge: Applied Materials, Materials Research Corporation, Motorola, Solid State Measurements und AMD.

Doch wichtige High-Tech-Forschung für den IuK-Bereich wird auch anderswo an deutschen Universitäten betrieben. So ist die Arbeitsgruppe Halbleiterbauelemente der Ruhr-Uni Bochum seit Jahren gefragter Forschungspartner im Bereich ultraschneller optischer Signalübertragung in Glasfasernetzen. Solche Netzwerke sind für einen weltumspannenden digitalen Datenfluß unabdingbar. Das Forscherteam um Professor Hans-Martin Rein stellt regelmäßig Geschwindigkeitsrekorde für Datenübertragungsraten auf. Mittlerweile sind die Bochumer bei 60 Gbit pro Sekunde angekommen.

Einen ähnlichen Rummel wie Professor Rein verursachte im Sommer sein Kollege Reinhard Maenner mit der Tesa-ROM auf dem Gebiet optischer Datenspeicherung. An seinem Lehrstuhl für Informatik der Universität Mannheim tüftelte eine Arbeitsgruppe um den Physiker Steffen Noethe 10 Gigabyte Daten auf eine Rolle glasklaren Tesafilm - in Form eines Hologramms. Anwendungsgebiete: Westentaschen-PCs und digitale Videokameras. Die CD-ROM-Technik stößt da zur Zeit an ihre räumlichen Grenzen.

Das Sammeln von Computererfahrung fängt in Chemnitz schon beim individuellen Internet-Zugang im Studentenwohnheim (fünf Mark pro Semester) an. Ansonsten teilen sich an der Uni durchschnittlich zehn Studenten einen Rechner. Das ist für Außenstehende wenig, aber im Vergleich zu anderen deutschen Hochschulen Spitze, ermittelte das Magazin "Konrd" in diesem Jahr. Nur die Fachhochschulen in Kiel und Karlsruhe waren besser.

Bereits 1995 startete die TU mit einem virtuellen Studiengang zu Informations- und Kommunikationssystemen. Inzwischen stehen die Sachsen im Bereich der virtuellen Lehre nicht mehr allein da. Vielmehr gibt es mittlerweile universitätsübergreifende Angebote. So gründeten die Hochschulen in Kassel, Saarbrücken, Göttingen und Leipzig 1997 eine Projektakademie Wirtschaftsinformatik Online. Binnen vier Jahren soll ein virtuelles Studienfach Wirtschaftsinformatik entwickelt werden.

Weiter geht die Zusammenarbeit bei der Virtuellen Universität Oberrhein (VIROR) der baden-württembergischen Universitäten Freiburg, Heidelberg, Karlsruhe und Mannheim. Der Start erfolgt in den Fächern Physik, Wirtschaftswissenschaften, Psychologie und Medizin.

Der selbstverständliche Umgang mit dem PC macht auch die internationale Kommunikation leichter. Wichtig in Chemnitz sind Forschungssemester im Ausland, in US-Forschungszentren. An der TU sind sie mittlerweile üblich, zum Beispiel bei Hewlett-Packard in Fort Collins, Colorado. Die Lehrstuhlinhaber, wie Winfried Kalfa, Professor für Betriebssysteme an der Informatik-Fakultät, kommen wieder zurück. Bei den Studenten weiß man das nicht. "Ich habe jetzt zur Zeit wieder einen meiner Leute dort drüben. Ich kann nicht sagen, ob ich ihn wiedersehe", so Kalfa.

Was für die Absolventen ein Segen ist, scheint für Kalfa bedrohliche Züge anzunehmen: "Ich kann meine Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter momentan nicht sicher besetzen", bedauert er. Zwei Dutzend Stellengesuche erhält er in der Woche, nur 50 Studenten gehen pro Semester ab.

Seine Mitarbeiter werden zum Teil vom Fleck weg, mitten aus laufen- den Forschungsarbeiten, förmlich herausgekauft. "Ich weiß nicht, ob das so gut ist", sagt Kalfa nachdenklich. Bei allem Wirbel um ihre Absolventen sind Kalfa und seine Kollegen nicht unbedingt euphorisch. TU-Pressesprecher Mario Steinebach: "Die Leute hier wollen auch in ein paar Jahren noch gute Arbeit leisten." Da ist es nötig, die Balance zu halten zwischen einem gesunden Wachstum der Studentenzahl und der Wahrung der Stärken. "Die menschliche Qualität, der direkte Kontakt von Studenten und Professoren, das macht viel aus hier", meint Steinebach. In einem Massenbetrieb wäre das wohl nicht mehr möglich.

Die Mischung aus angewandter Ausbildung, moderner Dienstleistung und Spitzenforschung macht die TU Chemnitz zu einem interessanten Kooperationspartner für die IT-Branche. So arbeitet die IBM-Tochter Computer Services GmbH (csg) Chemnitz, ein Querschnitts-Dienstleister der IT-Branche, eng mit Professor Bernd Stöckert vom Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik zusammen. Zum einen, was konkrete Projekte angeht, zum anderen benötigt die csg gegenwärtig bundesweit pro Jahr mehr als 200 neue Leute im Unternehmensbereich Softwareprojekte, wie Prokurist Erwin Betzinger erläutert: "Allein 25 kommen jährlich aus Chemnitz." Und die csg würde mehr nehmen, denn so Betzinger: "Die Qualifikation der Studienabgänger hat sich in den letzten Jahren dank des Engagements der TU stetig verbessert."

Bernd Stöckert, gleichzeitig Prorektor der TU Chemnitz, hat kräftig investiert, sowohl ins Equipment, als auch in die Absolventen. Wer bei ihm Wirtschaftsinformatik studiert, lernt nicht nur Wirtschaftwissenschaften, sondern auch SAP R/3 unter Praxisbedingungen. Die Studenten führen ein komplettes virtuelles Unternehmen über die gesamten Geschäftsprozesse hinweg. Ein zweiter Lehrstuhl in der Wirtschaftsinformatik soll langfristig dafür sorgen, daß die Betreuung und die Forschung dem Andrang bei wachsenden Studentenzahlen gewachsen ist.

Stöckert geht es vor allem darum, Betriebswirtschaft und Informatik zu integrieren. Für jeden Studenten ein eigener PC, das war ihm wichtig, als er vor zwei Jahren den Lehrstuhl neu einrichtete. Das hauseigene Multimedia-Labor nutzten die Studenten dazu, einen Studienführer auf CD-ROM herauszubringen.

Die TU Chemnitz hilft aber auch jenen Studenten weiter, die ihr Glück in der Selbständigkeit suchen. Eine Ringvorlesung zur Existenzgründung halten Dozenten mit Erfahrung wie Uwe Knorr, Gesellschafter der Simec GmbH & Co. KG. Jetzt kommt, unterstützt von der örtlichen Sparkasse, eine Gründungsprofessur dazu.

Die Simec, die Knorr zusammen mit seiner Frau und dem Studienkollegen Lutz Zacharias seit 1992 erfolgreich nach vorne brachte, ist einer der ersten Spin-offs der TU Chemnitz. Das Hauptgeschäft läuft über "Simplorer", eine Simulationssoftware für komplexe technische Systeme wie Leistungselektronik und Antriebstechnik.

"Heute sind wir den Banken sehr dankbar, daß wir nie einen Kredit bekommen haben, denn wir sind ein schuldenfreies Unternehmen", resümiert der promovierte Automatisierungs-Ingenieur Zacharias. Trotzdem stand Simec nicht ohne Hilfe da. Der VDI/VDE förderte das junge ostdeutsche Unternehmen, und im Technologie Centrum Chemnitz (TCC) bekam man die nötigen Räume zu passablen Preisen. Dort finden mittlerweile 40 junge Firmen meist für die ersten fünf Jahre Unterschlupf, 25 davon sind Spin-offs der TU.

Zacharias schließt sich dem allgemeinen Spin-off-Optimismus nicht unbedingt an: "Als Student eine Firma gründen, direkt von der Uni weg - ich könnte es mir nicht vorstellen. Es ist sicherlich ein besserer Start, einige Jahre in einem Unternehmen zu arbeiten und dann den Schritt in die Selbständigkeit zu wagen. Dann hat man eine solide Basis."

Im Gegensatz zu anderen innovativen deutschen Softwareschmieden trägt sich Simec noch nicht mit dem Gedanken, nach Kalifornien abzuwandern: "Zunächst einmal haben wir hier auch sehr gute Voraussetzungen gefunden. Was wir hier haben und hatten, sind gutausgebildete Mitarbeiter, die aus den umliegenden Hochschulen kommen", erläutert Lutz Zacharias. Die Chemnitzer sind selbstbewußt genug zu wissen, was sie an sich haben. Und da sind sie doch ein wenig stolz drauf.

IT-Forschung an Unis

Auch wenn allenthalben lamentiert wird, der Innovationsmotor in Deutschland sei noch nicht so richtig in Schwung, forschen immer mehr deutsche Universitäten mit industriellen Kooperationspartnern und betreiben angewandte Spitzenforschung - nicht nur in Chemnitz am Zentrum für Microsystemtechnik. Andere Beispiele sind die TU Bochum (ultraschnelle optische Datenübertragung), die TU Dresden (Mobilfunk) und die Uni Mannheim (Tesa-ROM).

In einer Blitzumfrage hat die "Computerwoche" einige Beispiele für Lehrbereiche zusammengetragen, an denen High-Tech-Forschung betrieben wird. Dort arbeiten die Wissenschaftler entweder an konkreten Problemlösungen mit den Unternehmen der IuK-Branche zusammen oder forschen an Grundlagen für die Informationstechnik der Zukunft. Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

*Stephan Eder ist freier Journalist in Bonn.