Informationsanalyse statt Organisations-Strukturuntersuchung

Folge 10

09.01.1981

Denn mit dem Grad der Komplexität wächst die Intransparenz, zum Glück, möchte man sagen, erweitern sich dadurch wieder die Spielräume der Erwartungshaltungen, falls auch das (gegenüber der Rechtsnorm) spielerische, unerwartete, ja sogar irrationale Handeln zwar verboten, aber nicht rückgängig gemacht werden kann. Dennoch stellen diese unerwarteten Handlungen Störungen eines Gleichgewichts dar. Ein biologischer Organismus würde darauf entsprechend reagieren können, ein soziales Steuersystem

wahrscheinlich auch, sofern im Widerspruch zu allgemein anerkannten Normen der Gesellschaft verstoßen wird. Der französische Soziologe Emile Durkheim bezeichnete das abweichende Verhalten einzelner als Anomie und sah darin eine Orientierungslosigkeit innerhalb eines vorgegebenen, aber nicht identifizierbaren Systems.

Nun ist ein biologischer Organismus schwerlich funktionell exakt nachbildbar. Das werden sogar die VLSI-Fanatiker einräumen. Ein im strengen formalen Sinne, ein funktionales Modell, das die Eigentümlichkeiten der Unzahl von Regelkreisen von Individuen zuzüglich derjenigen zur Akkommodation im sozialen Verband berücksichtigt, gibt es noch nicht. Die hohe Komplexität von durch Jahrtausende entwickelten Organismen läßt auch deren Auflösung durch die instrumentelle Mathematik in diesen Jahrzehnten als unzureichend erscheinen.

Ein größeres Modellsystem muß mehr vorsehen als eine simple, zweckdienliche Beschreibung von Funktionen im mathematischen Sinne. Analyseprozeduren müssen ebenfalls mitgeliefert werden. Von externen Wissenschaftlern wird bestätigt, daß einige solcher Prozeduren durchaus bei den Petri-Netzen vorhanden sind. Gleichwohl sind sie noch nicht umfangreich genug und mögen für komplexe Entscheidungsprobleme nicht ausreichend sein. Der Haupteinwand gegen die Verwendung von Petri-Netzen ist der, daß für eine vollständige Beschreibung von realen Protokollen die Anzahl der Stellen und Transitionen übermäßig groß gerät, und das daraus resultierende Modell wird zu komplex, um es zu verstehen. Die kognitiven Dissonanzen zu diesem Modell sind selbst innerhalb einer Großforschungsanlage laut geworden.

Wie schon zum Kölner Integrationsmodell herausgestellt, kranken die meisten Modelle, die ein komplexes Informations- und Handlungsgeschehen mit besten Absichten und größter Genauigkeit abbilden wollen, an der "Überschätzung des Aggregates". Die Wirklichkeitsnähe oder die Handhabung unter realen Bedingungen nimmt paradoxerweise ab, je komplexer und von vornherein undurchsichtiger die Strukturen ausfallen, die sich aus dem sozialen Handeln ergeben. Nach Dreitzel steht der Begriff "Struktur im selben Verhältnis zum Begriff System wie die Vorstellung zur Wirklichkeit". Zum einen erscheint sogenannten Praktikern, die sich mit der Anomie und den nichtidentifizierbaren Systemen längst abgefunden haben, das Vorgehen der Modellbildner an Hochschulinstituten und auch innerhalb der hochschulfreien Forschungseinrichtungen als eine Mißachtung der Erfahrenheit. Zum anderen beziehen sich viele der heutigen Strukturanalytiker weltanschaulich auf das "falsche Bewußtsein". Dieses ist ein Grundbegriff des Marxismus und setzt zunächst gesellschaftliche Bewußtseinsformen voraus. Die kommen nach Karl Marx so zustande: "In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktionskräfte entsprechen.

Wird fortgesetzt