Grenzen von Standardsoftware

Flexible Tools für die Wertschöpfungskette

30.05.1997

Drei Generationen von Standardsoftware kamen in den vergangenen 15 Jahren zum Einsatz. Nachdem zunächst Softwarelösungen für die proprietäre Großrechnerwelt die einzig verfügbare Alternative für ein Unternehmen darstellten, wurden diese seit Mitte der achtziger Jahre durch Programme für die kostengünstigeren Midrange-Rechner (wie zum Beispiel AS/400) nach und nach abgelöst.

Bis heute haben dann vor allem tabellen- und parametergesteuerte Client-Server-Anwendungen auf offenen Plattformen diesen Markt dominiert.

Parallel mit den Plattformen änderte sich auch der Integrationsgrad der Systeme: von Insellösungen wie PPS oder Finanzbuchhaltung über integrierte Lösungen für Teilbereiche wie CIM oder Rechnungswesen bis zur integrierten Komplettlösung für alle Unternehmensbereiche. Um einen größeren Zielmarkt zu adressieren, hatten die Standardpakete im Lauf der Zeit Funktionalitäten für beinahe jeden Unternehmenstyp und jede Branche im Angebot.

Die Folge ist eine ständig wachsende Komplexität, die kundenindividuelle Anpassungen sehr aufwendig und teuer, wenn nicht gar unmöglich macht.

Zur Anpassung werden von den Softwareherstellern spezifische Entwicklungsumgebungen und eigene Programmiersprachen bereitgestellt, die nur von teuren Spezialisten beherrscht werden. Dies treibt die Einführungskosten in die Höhe und verlängert - aufgrund der Komplexität der Pakete - die Einführungszeiten.

Flexibilität für eigene Anpassungen an der Standardsoftware wird durch die starre funktionale Architektur von vornherein verhindert. Der Versuch, alle denkbaren Anwendungsfälle und Geschäftsprozesse mittels einer Vielzahl eng miteinander verzahnter Funktionalitäten abzudecken und durch vorgedachte Branchenreferenzmodelle zu steuern, erschwert Systemanpassungen. Außerdem bleiben die individuellen Stärken der Unternehmen unberücksichtigt. Auch der Einsatz neuer Lösungsplattformen wie Windows NT und relationaler Datenbanken ändert nichts an diesen grundsätzlichen Problemen herkömmlicher integrierter Standardsoftware.

Die Unternehmen aller Branchen sehen sich heute rasanten Marktveränderungen ausgesetzt. Sättigungseffekte und Globalisierungstrends haben zu neuen Dimensionen des Wettbewerbs in nahezu allen Industriesegmenten geführt. Hinzu kommt, daß Kunden ständig höhere Anforderungen an Qualität, Preis, Service, Zuverlässigkeit und Individualität der Produkte und Lieferanten stellen.

Zugleich gewinnt der Zeitfaktor stetig an Bedeutung, was sich in wechselnden Kundenanforderungen, kürzeren Produktlebenszyklen und dem Zwang zu kürzeren Lieferzeiten ausdrückt.

Lorbeeren für die neue SW-Generation?

Concurrent Engineering und die Schaffung globaler, virtueller Unternehmen - was nichts anderes heißt, als die Integration von Zulieferern in eine länderübergreifende Wertschöpfungskette - erfordern durchgängige Geschäftsprozesse und Informa- tionsflüsse über Unternehmensgrenzen hinweg.

Fertigungsunternehmen müssen daher ihre Geschäftsprozesse ständig überprüfen und verbessern, um konkurrenfähig zu bleiben.

Bis jetzt war keine der drei Generationen von Standardsoftware den heutigen Anforderungen eines immer komplexer werdenden Unternehmensumfelds gewachsen. Nur eine neue Softwaregeneration kann betriebliche Abläufe gegebenenfalls blitzschnell ver- ändern und den tatsächlichen Marktgegebenheiten anpassen. Ferner müssen die Systeme einfacher zu bedienen sein - ohne großen zeit- und kostenintensiven Schulungs- und Beratungsaufwand. Diese neue, von führenden Marktspezialisten seit längerem prophezeite Generation flexibler und objektorientierter Standardsoftware ist auf dem Vormarsch und könnte sich bereits in Kürze am Markt durchsetzen.

Sie scheint die lang ersehnte Lösung für zwei der größten Probleme zu sein, mit denen sich Anwender in diesem Bereich immer wieder auseinanderzusetzen haben: Schnelligkeit und Einfachheit der Anpassung einerseits und Einführung von Standardsoftware andererseits.

Ohne Programmieraufwand bietet die neue Softwaregeneration verblüffend einfache Lösungen für Unternehmen, um deren individuelle betriebliche Abläufe effizient durch Standardsoftware zu unterstützen. Der objektbasierte Aufbau ermöglicht es, durch die Verkettung von Geschäftsprozessen kundenindividuelle Abläufe zu konfigurieren. Mit der grafischen Modellierung, dem sogenannten "Business Design", lassen sich Geschäftsprozesse definieren und automatisch in die Anwendung übernehmen. Von diesem Moment an arbeitet die Software entsprechend dem definierten Workflow. Der große Vorteil dieser Vorgehensweise zeigt sich besonders bei späteren Änderungen der Unternehmensabläufe. Mit wenigen Mausklicks werden veränderte Geschäftsprozesse definiert und automatisch übernommen, ohne dafür erst umfangreiche Analysen vorzunehmen.

Werkzeuge für das Oberflächendesign ermöglichen dem Anwender außerdem die individuelle Arbeitsplatzgestaltung für Bereiche und einzelne Arbeitsplätze - auch ohne Spezialkenntnisse.

Darüber hinaus bedienen sich einige Anbieter schon heute der Vorteile der Objekttechnologie, zum Beispiel, wenn es darum geht, Fremdanwendungen zu integrieren. So ist es mit diesen Standardpaketen möglich, marktführende Officepakete, Internet-Software oder Dokumenten-Management-Systeme als Bestandteil betriebswirtschaftlicher Standardsoftware zu nutzen.

Durch diese in ihrer Architektur begründeten Möglichkeiten sind objektorientierte Lösungen bereits heute künftigen Anforderungen gewachsen.

Analysten wie AMR (Advanced Manufacturing Research) oder die Gartner Group prophezeien mit Schlagzeilen wie "ERP becomes NBO" für die nächsten Jahre einen klaren Trend zu Networked-Business-Objects. Durch die Vernetzung von Geschäftsobjekten zum Beispiel über das Internet wird sich die Einbindung von Anwendungen unterschiedlicher Softwarehersteller weiter vereinfachen. Der Anwender ist dann in der Lage, sich aus Objekten führender Anbieter seine individuelle Standardsoftware zusammenzustellen. Die Anwender werden dadurch nicht nur unabhängiger, sie können auch Zeit- und Kostenvorteile daraus ziehen.

Die Softwarehersteller müssen sich von Allround-Anbietern zu Entwicklern von Business-Frameworks und Objektbaukästen wandeln, wollen sie weiterhin am Markt erfolgreich sein. Durch die Freiheit der Kunden, führende Softwarekomponenten auswählen und kombinieren zu können, sind die Tage starrer, funktional geprägter Software gezählt. Was heute in der Automobilindustrie schon Realität ist - die Verringerung der Fertigungstiefe, der Zukauf von Fremdkomponenten und der Wandel zu "Engineering"-Firmen - wird somit auch in der Software-Industrie Einzug halten.

Speziell Anwender der ersten beiden Generationen von Main- frame- oder Midrange-basierter Standardsoftware, die häufig nicht mehr vom Anbieter gepflegt werden, stehen heute - bedingt durch den Jahrtausendwechsel - häufig vor der Entscheidung für eine neue Standardlösung. Sie sollten bei der Systemauswahl nicht nur funktionale Aspekte berücksichtigen, sondern vor allem die Einfachheit und Flexibilität der Software genau prüfen, insbesondere wenn es um schnelle Einführung und zukünftige organisatorische Änderungen geht. Zusätzlich sollte die Software fähig sein, neue Trends wie Electronic-Commerce und Supply-Chain-Management durch Kommunikation und Interoperabilität zu unterstützen.

Sind diese Voraussetzungen erfüllt, heißt das allerdings noch lange nicht, daß die Grenzen dieser neuen Generation von Standardsoftware erreicht sind.

ANGEKLICKT

Die Mainframe-Ära hatte ihre eigenen, proprietären Softwarewelten. Insellösungen waren üblich, offene Systeme nur in Ausnahmefällen erwünscht. Die Vorteile - in erster Linie für die Hersteller - lagen auf der Hand. Die Öffnung der Systeme (Stichwort: Client-Server-Philosophie) und weitgehende Standardisierung ermöglichten mehr Flexibilität, zugleich aber stieg die Komplexität, die sich jedoch von integrierter Standardsoftware in der Regel abdecken ließ. Der Paradigmenwechsel hin zur Objektorientierung schafft nun neue Bedingungen, die vor allem den Anwendern entgegenkommen: größere Flexibilität bei niedrigeren Kosten.

* Carsten Greiert ist freier Journalist in Frankfurt am Main.