Flexible Arbeitszeit: Zunächst Grabenkämpfe beenden

29.07.1988

Hans Dieter Köder MdL Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion in Stuttgart

Die hochentwickelten Industrienationen stehen vor einem grundlegenden Wandel. Neue Technik wird neben der Arbeitswelt auch die gesamten Lebensumstände verändern. Welche Richtung diese Entwicklung gehen wird, hängt entscheidend von den politischen Weichenstellungen ab.

Bereits an dieser Stelle scheiden sich die Wege. Konservative Politiker gehen in der Denktradition von Gehlen und Schelsky davon aus, daß die Entfaltung der Technik selbst die Lebensverhältnisse bestimmt und daß sich die Menschen darauf einzurichten haben. Selbst der als "Modernist" geltende Ministerpräsident Lothar Späth ist in diesem Denkmodell gefangen. Seine "Versöhnungsgesellschaft" setzt die Unterwerfung der arbeitenden Menschen unter den Zwang der Technik voraus. Deregulation als Antwort auf den technischen Wandel bedeutet den Rückzug der Politik gerade dann, wenn sie am meisten gefragt ist.

Das sozialdemokratische Modell des "neuen Fortschritts" hält dem entgegen: Technischer Fortschritt ist auch eine politische Gestaltungsaufgabe. Der grundlegende Wandel der Technik setzt einen bewußt gestalteten gesellschaftlichen und kulturellen Wandel voraus. Dem technischen "Gewußt wie" muß das politische "Gewußt wozu" gegenüberstehen. Sozialdemokratische Technologiepolitik erfordert, gerade weil sie an menschlichen Wertvorstellungen orientiert ist. Reformen in vielen Bereichen. Statt Deregulation also neue, nach vorne entworfene gesellschaftliche Regeln.

Fortschritt bedeutet also nicht das Festklammern an Besitzständen. Das Problem besteht im Gegenteil darin, daß alle unsere wesentlichen gesellschaftlichen Strukturen, bei unserem Steuersystem angefangen, über das Sozialsystem bis zum Bildungssektor ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert haben und den Herausforderungen des 21.Jahrhunderts nicht angepaßt sind. Fortschritt muß als umfassende Reformaufgabe verstanden werden und am Ende eines politischen Prozesses in einen großen gesellschaftlichen Entwurf einmünden.

Ein Kernstück für neue Überlegungen wird sicher weltweit in der Arbeitszeitverkürzung liegen. Bei hohem materiellem Standard ist es keinesfalls abwegig, Produktivitätsgewinne weniger in Form höherer Löhner sondern stärker in Form kürzerer Arbeitszeit zu verteilen. Dabei gibt es sicher eine Reihe von Gefahrenpunkten, die bedacht sein wollen. Ich will sie nur kurz skizzieren:

1. Die Umsetzung von Arbeitszeitverkürzungen darf nicht schematisch die Produktionsverhältnisse der Automobilhersteller mit denen von

Handwerksbetrieben gleichsetzen. Der Leber-Kompromiß war zu Recht variabel angelegt.

2. Die Verkürzung der Arbeitszeit darf nicht zugleich die Maschinenlaufzeit verkürzen, weil sonst mit dem Produktivitätsspielraum auch der Verteilungsspielraum verengt wird. Die Gewerkschaften tun also gut daran, nicht den 8-Stunden-Tag und die 5-Tage-Woche zugleich zu fixieren. Mehr Beweglichkeit bei der Arbeitsgestaltung kann auch für mehr Zeitsouveränität der Arbeitnehmer genutzt, werden. Der zentrale Fixpunkt besteht für mich aber darin, die Ausweitung der Sonntagsarbeit zu verhindern.

3. Arbeitszeitverkürzungen verteuern die Dienstleistungen, die für Menschen erbracht werden und nicht durch Maschinen ersetzbar sind. Dies betrifft elementare menschliche Bedürfnisse beispielsweise im Gesundheitswesen, im Pflegebereich und in der Bildung. Deshalb ist es schon auf mittlere Sicht geradezu abenteuerlich, durch eine falsche Steuersenkungspolitik den gesellschaftlichen Verteilungsspielraum abzubauen.

4. Arbeitszeitverkürzungen schaffen nur dann zusätzliche Arbeitsplätze, wenn die Nachfrage mithalten kann. Ein entscheidendes politisches Mittel besteht darin, technischen Fortschritt in zentrale Felder gesellschaftlichen Bedarfs zu lenken, zum Beispiel auf den Umweltsektor. Langfristig heißt das: Wir müssen unser Steuersystem so umbauen, daß umweltschädliche Produktion und umweltschädlicher Konsum teurer werden. Im Gegenzug kann die Belastung mit direkten, auf das Einkommen bezogenen Steuern abgebaut werden. Dies ist ein Weg, umweltfreundliches Verhalten zu erzwingen.

Eine weitere, bisher kaum andiskutierte Frage ist die, welche Entwicklung die menschliche Arbeit inhaltlich nehmen wird. Geht die industrielle Produktion durch Vernetzung der Produktionsanlagen den Weg zur menschenleeren, vollautomatisierten Fabrik, oder gelingt es, durch eine flexible Automatisierung die tayloristische Arbeitszerstückelung zu überwinden? Die Entscheidung dieser zentralen gesellschaftlichen Frage darf nicht allein den Managementetagen der großen Unternehmen überlassen bleiben. Ein gesellschaftlicher Konsens wird nur über den Ausbau der Mitbestimmung der Arbeitnehmer erreichbar sein. Gerade wer Technikfeindlichkeit abbauen will, muß die Mitbestimmung ausbauen. Das Innovationspotential, das in qualifizierten und durch Mitbestimmung motivierten Arbeitnehmern liegen kann, wird von der Wirtschaft unterschätzt.

Diese Überlegungen sollen zeigen: Es gibt in unserer Gesellschaft Stoff genug für einen innovativen Diskurs, der uns aus festgefahrenen Grabenkämpfen herausführen kann.

Arbeitszeit flexibel gestalten?

Die Industrieländer werden um eine Verkürzung der Arbeitszeit nicht herumkommen. Im nächsten Jahrhundert ist eine zwanzigstündige Arbeitswoche durchaus denkbar, lautet die These von Arbeitsexperten des Club of Rome. Die produktive Arbeit, die mit der Automatisierung immer weniger wird, muß gerecht verteilt werden, erklärt Präsident Alexander Klug. Das Weltbild der kommenden Informationsgesellschaft wird sich nach Meinung der Club-of-Rome-Experten vom heutigen ähnlich unterscheiden wie das Mittelalter von der Industriegesellschaft. Fragen tauchen auf: Ist die Gesellschaft auf diese neue Situation überhaupt vorbereitet? Kann es sich ein Hochlohnland wie die Bundesrepublik denn überhaupt leisten, auf Dauer ohne flexible Arbeitszeit auszukommen? Bringt diese Änderung der Arbeitszeitgestaltung nicht eine kulturelle Revolution mit sich? In CW Nr. 30 äußerte sich ein Vertreter der CDU, in der kommenden Woche wird sich ein Vertreter der Grünen zu diesem Fragenkomplex äußern.